Süchtig
Stimmen.
Annie fuhr herum. Ich stand jetzt so dicht hinter ihr, dass ich ihr Gesicht erkennen konnte. »Wenn die mir das anhängen, verbringe ich den Rest meines Lebens im Gefängnis.«
»Dir das anhängen? Großer Gott!«
»Die verstehen es einfach nicht«, sagte sie. »Sie wollen es nicht kapieren.«
»Was wollen sie nicht kapieren?«
»Du verstehst es auch nicht. Mein Vater ist am Ende. Der war sowieso nur ein kleiner Fisch. Ich war nie auf
ihn und seine kostbaren Geschäftsverbindungen angewiesen. Sie waren praktisch, weil sie mir die notwendigen Strukturen und Ressourcen zur Verfügung stellten. Als mir diese Heuchler nicht mehr von Nutzen sein konnten, habe ich sie abserviert. Diese Leute haben gar keine Ahnung, was Kommunikation wirklich bedeutet. Mein Vater am allerwenigsten. Aber das hier wird nichts ändern. Die Leute wollen die totale Kommunikation. Sie brauchen sie. Sie verlangen danach. Das ist das Einzige, das zählt. Die Mittel sind bereits vorhanden.«
»Es ist vorbei, Annie.«
Sie ging zur Reling, wo sie kurz stehen blieb, als wollte sie weich werden. Ich hätte schwören können, dass ich eine Träne sah.
»Ein paar Monate vor meinem Verschwinden war ich mit Sarah beim Essen.« Sie klang plötzlich sehr vernünftig. »Ich habe ihr gesagt, falls mir etwas zustößt, will ich nur, dass du glücklich wirst. Ich wollte, dass du jemanden findest, mit dem du leben kannst. Daran hat sich nichts geändert. Ich will, dass du glücklich wirst.«
Ich grinste süffisant.
»Erin scheint eine tolle Frau zu sein. Siehst du, wie leicht ich zu ersetzen bin?« Annie hatte die Augen geschlossen gehabt. Jetzt öffnete sie sie wieder.
»Ich muss weg. Diesmal keine Tricks«, sagte sie. »Wirst du versuchen, mir das Leben zu retten?«
»Was?«
»Du weißt doch, wie man Leben rettet. Das hast du mir ganz am Anfang unserer Beziehung erzählt. Kannst du meins retten? Wirst du es tun?«
Annie war sehr wohl in der Lage, Schmerz zu empfinden. Sie konnte es nennen, wie sie wollte, aber die Sache mit uns bedeutete ihr etwas, auch wenn sie sie selbst manipuliert hatte. Ich bedeutete ihr etwas.
»Weißt du, du hast Recht«, sagte ich.
»Stoppen Sie sofort die Maschinen«, dröhnte es aus einem Megafon. Gleich würde die Polizei an Bord kommen.
»Womit hatte ich Recht?«
»Ich habe dich nicht geliebt. Ich hätte dich nie lieben können.«
Annie zuckte zusammen. Das traf sie genauso hart wie die Aussicht, sich wieder verstecken zu müssen.
»STOPPEN SIE DIE MASCHINEN! SOFORT!«
Annie stieg auf die Reling. Ihre Stimme klang wie die eines Kindes und war kaum mehr als ein Flüstern. »Wirst du mich retten?«
Ich hörte die Polizei an Bord kommen und packte sie am Arm.
»Vergiss mich nicht. Vergiss nicht, was wir füreinander empfunden haben.«
Sie begegnete meinem Blick und sprang. Ich konnte sie nicht mehr halten und stürzte an die Reling. Als sie auf dem Wasser aufschlug, sah sie zu mir auf, ruderte mit den Armen und lächelte.
60
Licht und Chaos schwappten über das Boot. Ich zeigte den anstürmenden Polizisten die Stelle, an der ich kurz zuvor noch Luftblasen gesehen hatte. Kurz darauf sprang der erste Beamte ins Wasser. Eine Hand hielt mich davon ab, mich selbst in die Fluten zu stürzen, aber ich war ohnehin wie gelähmt.
Die Hand gehörte zu einem bekannten Arm – dem von Lieutenant Aravelo.
»Wir sind Ihnen nach Vegas gefolgt. Sie und Ihre Freundin haben uns einiges zu erklären.«
»Warum mussten wir uns auch einmischen. Sehr unartig«, sagte eine Stimme.
Erin.
Aravelo lächelte spöttisch.
»Ich sollte Annie identifizieren«, erklärte Erin.
Ich deutete auf das Wasser unter uns.
Erin legte mir die Hand auf die Schulter und ließ sie über meinen Arm gleiten. Dann nahm sie meine Hand und fing an, sanft die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben.
Epilog
Manche Menschen halten die außergewöhnliche Schönheit unserer Welt für einen Beweis für die Existenz Gottes. Wie sonst ließe sich erklären, dass die Natur in vielerlei Hinsicht den menschlichen Bedürfnissen entspricht und uns solche Freude bereitet?
Eine andere Theorie ist, dass wir Menschen uns über Millionen von Jahren hinweg gemeinsam mit unserer Umgebung entwickelt haben. Natürlich finden wir unsere Welt schön: Wir sind zusammen mit ihr gewachsen, haben uns an sie angepasst und überleben dank ihr. Vielleicht ist die Natur nicht Ausdruck des Göttlichen, sondern ein überdimensionales Wohnzimmer, in dem sich unsere
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