Süchtig
und alle zwei Minuten seine E-Mails abzurufen. Ablenkungsmanöver unter dem Deckmantel der Produktivität.
Auf der Homepage des San Francisco Chronicle fand ich drei Artikel zu der Detonation im Café. »Restaurant in San Francisco wird durch Explosion zerstört«, lautete die Hauptschlagzeile.
Dem Bericht zufolge ging die Polizei allen Hinweisen nach, konnte im Augenblick aber weder einen Verdächtigen noch ein mögliches Motiv vorweisen. Es gab keine Anhaltspunkte für einen Terroranschlag. Fünf Menschen waren in dem Lokal ums Leben gekommen.
Dem Chronicle zufolge wäre die Zahl der Opfer bei schlechtem Wetter wohl höher gewesen. Ein halbes Dutzend
Gäste, die sich sonst möglicherweise in dem Café aufgehalten hätten, hatten an den schweren Eichentischen draußen gesessen. Die anderen hatten nicht so viel Glück gehabt. Ich las die Nachrufe.
Simon Anderson, fünfunddreißig, war ein aufstrebender Schriftsteller gewesen. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder, von denen eines adoptiert war und an Autismus litt. Andrea Knudson, fünfundzwanzig, hatte soeben ihr Jurastudium abgeschlossen und war mit der Vorbereitung auf die Anwaltsprüfung beschäftigt gewesen. Darby Station, regionaler Marketingmanager einer Firma mit Sitz in Texas, war in den Drei ßigern gewesen und Single. Und dann waren da noch Eileen und Terry Dujobe – Rentner, die sich einen gemütlichen Nachmittag im Café gönnten, ohne zu ahnen, dass es ihr letzter werden sollte. Alle stammten aus San Francisco.
Den Artikeln entnahm ich, dass mehrere Personen im Café die Explosion unverletzt überstanden hatten. Eine davon wurde namentlich erwähnt. Der Polizei zufolge hatte eine Kellnerin namens Erin Coultran Sekundenbruchteile vor der Detonation die kleine Personaltoilette betreten. Der Raum war mit Beton verstärkt und daher nicht beschädigt worden, was ihr das Leben gerettet hatte.
Die Zeitung hatte ein Bild von Erin gedruckt, die verständlicherweise mitgenommen wirkte. Sie war dreiunddreißig und hübsch, vielleicht sogar schön. Selbst auf dem Papier wirkten ihre Augen freundlich und intelligent.
Ich spürte, wie mein Adrenalinspiegel anstieg. Es juckte mich in den Beinen, und ich biss mir so fest in
die Wange, dass ich zusammenzuckte. Mit zittrigem Finger malte ich einen imaginären Kreis um diese Erin.
Ich starrte auf ihre Augen. Hatte sie die Frau gesehen, die mir im Café die Nachricht zugesteckt hatte?
7
Hoch qualifizierte Journalisten wie ich haben gelernt, wie man Menschen aufspürt. Zum Beispiel im Telefonbuch oder im Internet. Deswegen werden wir so gut bezahlt.
Es stellte sich heraus, dass Erin Coultran zu einer Performance-Gruppe aus dem Mission District gehörte. Der Website der Truppe, die sich Heavenly Booties nannte, entnahm ich, dass sie sich der Tanzimprovisation für Frauen mit sozialem Bewusstsein verschrieben hatte. Darunter konnte ich mir nichts Konkretes vorstellen, außer dass Erin wohl die Führung übernehmen würde, falls wir jemals miteinander eine flotte Sohle aufs Parkett legten.
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass das Büro der Gruppe ständig besetzt war. Falls doch, waren meine unternehmungslustigen Berufskollegen bestimmt schon da. Aber irgendwo musste ich ja anfangen.
Tatsächlich lungerte bereits eine Handvoll Journalisten auf dem Gehweg vor dem bescheidenen Gebäude herum. Es herrschte allgemeine Hektik. Das ist typisch für Reporter und liegt an der kurzen Aufmerksamkeitsspanne, die zu diesem Beruf gehört. Immer auf der Suche nach der nächsten Sensation.
Die cremefarbene Jalousie vor dem Fenster des Büros war halb heruntergelassen. Ich kniete mich auf den Boden und spähte durch den Spalt darunter, konnte aber nur zwei Holztische und einen Linoleumfußboden erkennen. Als ich mich umdrehte, schien mir die Sonne direkt in die Augen. Mein Adrenalinrausch war einem dumpfen Kopfschmerz gewichen.
Zwei Monate zuvor hatte ich darüber berichtet, dass dieselben Firmen, die Sportprogramme für Jugendliche sponsern, die Verkaufsautomaten an San Franciscos Schulen mit dick machendem Junkfood bestücken. Investigativen Journalismus konnte man das beim besten Willen nicht nennen. Wie meistens bei meiner Arbeit kam es nur darauf an, die richtigen Verbindungen zu erkennen.
Ich bin kein Geheimagent, sondern ein Reporter mit Notizbuch, gesunder Neugier und großem Respekt vor dem ersten Verfassungszusatz, der die Pressefreiheit garantiert. In diesem Fall würde das wohl nicht reichen.
Zwei
Weitere Kostenlose Bücher