Süchtig
anderen, einschließlich meiner Freunde, meinen Berufswechsel als Versagen betrachteten. Manchmal fiel es mir schwer, mich davon nicht anstecken zu lassen. Als ich aufsah, erwiderte Annie meinen Blick.
»Ich bin froh, dass du am Lake Tahoe nach mir gesucht hast.« Sie senkte den Blick. »Ich habe auch nach dir Ausschau gehalten.«
Dann beugte sie sich vor und küsste mich auf die Wange. Ich schmolz dahin.
Wir schlenderten an Tortilla-Restaurants und Billigkaufhäusern vorbei.
»Dunkle Gassen gehören zu den romantischsten Orten überhaupt«, sagte ich, als wir an einen kleinen Durchgang zwischen zwei Gebäuden kamen, und nahm Annies Hand. Wir fingen an, uns zu küssen. Sie legte meine Hand auf ihren Rücken und schmiegte sich an mich.
»Fahren kannst du aber nicht mehr«, stellte ich fest, als wir beide nach Luft schnappten.
Sie holte ihr Handy hervor, entschuldigte sich und wählte eine Nummer. Danach küssten wir uns weiter, bis jemand hupte. Vor der Passage war ein dunkler BMW vorgefahren. »Ich werde abgeholt«, sagte sie.
Ohne meine Hand loszulassen, öffnete sie die Tür. Dann stieg sie in den dunklen Wagen, und die Limousine rollte davon.
5
Immer noch benommen von der Explosion fuhr ich nach Hause. Ich lebte in Potrero Hill, einem früheren Gewerbegebiet, das sich mehr und mehr zur Wohngegend entwickelt hatte. Während des Internetbooms war der Wohnraum knapp geworden, und so war ein Teil der plötzlich zu Wohlstand gelangten Twens in Potrero gelandet.
Meiner Wohnung gegenüber lag Meatless Ray’s, ein Bioladen, der außer Lebensmitteln homöopathische Medikamente und Fleischersatz auf Tofubasis führte. Der Inhaber des winzigen Waschsalons daneben bot auch technische Unterstützung bei Computerproblemen an. So war das San Francisco nach dem Boom – getragen von Bioweizen und E-Mail-Verkehr, kämpfte es um seinen Wiederaufstieg.
Mein Lieblingsetablissement war das Past Time, eine Bar, die nur drei Häuserblocks von meiner Wohnung entfernt lag und bis vier Uhr morgens geöffnet hatte. Das Lokal selbst war nicht weiter bemerkenswert. Die Gäste dafür umso mehr, vor allem Dennis »Bullseye« Leary und seine Frau Samantha.
Vieles deutete darauf hin, dass die Learys die schmale Grenze zwischen Genie und Wahnsinn überschritten
hatten, wie immer wieder behauptet wurde. Auf jeden Fall waren die beiden schillernde Persönlichkeiten mit erstaunlichem Wissen. Wer kennt schon die durchschnittliche Gesamttrefferquote jedes Startspielers, der mehr als zwei Spielzeiten bei den San Francisco Giants verbrachte?
Bullseye. Seine Stärke waren Zahlen, die er sich problemlos merkte, und Mathematik. Seine Schwäche war so ziemlich alles andere. Wichtige Dinge wie eine feste Arbeit oder regelmäßige Körperpflege fielen ihm schwer, aber auch kleine Aufgaben konnten für ihn zur Herausforderung werden. Einmal verfehlte er das Dartboard so weit, dass er eine Kellnerin traf, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Scheibe stand. Typisch Bullseye eben.
In der Bar kursierte eine unbestätigte Version seiner Lebensgeschichte, der zufolge Bullseye früher eine Chevron-Tankstelle geführt und damit gut verdient hatte. Angeblich war es nach lautstarken Auseinandersetzungen zum Bruch mit der Firmenzentrale gekommen.
Samantha hatte ihr eigenes Spezialgebiet. Sie war eine spirituelle Heilerin, wie es im New-Age-Jargon hieß, und verstand es, durch Handauflegen Kopfschmerzen, Sportverletzungen und Berufskrankheiten zu heilen. Manche Menschen nannten das Akupressur. Für uns war sie einfach »die Hexe«.
Samantha besaß ein Gespür für Stimmungen. Außerdem behauptete sie, Häuser von Geistern und Dämonen befreien zu können. Nachdem deren Existenz nur schwer nachweisbar ist, wurde dieser Punkt in der Bar immer wieder kontrovers diskutiert. Dank der grellbunten
selbst gestrickten Mützen, die angeblich ihre Körpertemperatur regulierten, war sie schon aus weiter Ferne zu erkennen.
Samantha und Bullseye stritten gern. Einmal kam es zu einer erbitterten Auseinandersetzung über die Frage, ob er im Jenseits an sie gebunden sein würde, sofern es ein Leben nach dem Tod gäbe.
Der Streit dauerte Tage. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie einander überhaupt nicht mochten, sondern nur liebten. Ihre Beziehung stellte ihr Selbstverständnis und ihre Toleranz regelmäßig auf die Probe. Immerhin verabreichte Samantha Massagen, bei denen sie sich zwar platonisch, aber sehr intensiv mit den Körpern und Seelen ihrer
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