Süchtig
Noe Valley wurden für Wohnungen in dieser Größe dreitausend Dollar im Monat gezahlt.
Ich war gekommen, weil ich irgendwo anfangen musste. Vielleicht traf ich jemanden aus dem Café, dem ich das Foto in meiner Brusttasche zeigen konnte. Ich holte das Bild heraus und sah es mir an. Annie.
Unser zweites Rendezvous hatte zwei Wochen nach dem ersten stattgefunden. In der Zwischenzeit hatten wir wenig Kontakt gehabt, weil sie geschäftlich in New York war. Auf meine E-Mails hatte sie kaum reagiert. Aber als ich sie an ihrer Wohnung abholte, küsste sie mich im Gang so leidenschaftlich, dass ich alles um mich herum vergaß, bis ein kleines Mädchen aus der Tür gegenüber kam.
Offenbar hatte sich der Kater des Kindes hinter dem Ofen versteckt und saß schon seit Stunden dort. Annie versprach Hilfe. Sie verschwand kurz in ihrer Wohnung und kam mit einer Tüte Katzenminze zurück, die sie mir mit verschmitztem Blick zeigte. Dann begaben wir uns auf die Suche nach Edmund. Annie kniete sich neben den Ofen und spielte großes Theater.
Nachdem sie dem Kater ausführlich erklärt hatte, wie viel besser es für alle Beteiligten wäre, wenn er hinter dem Ofen hervorkäme, erschien Edmund tatsächlich – zur großen Freude seiner Besitzerin. Annie, die das Tier von Spinnweben säuberte und hinter dem Ohr kraulte, war ebenfalls entzückt.
Annie, die Katzenflüsterin. Ich meinerseits hatte schon immer eine Schwäche für Frauen gehabt, die mit Tieren umgehen konnten. Wer ein kleines Monster liebt, das regelmäßig auf den Teppich pinkelt, hält es auch mit mir aus, dachte ich mir. Zu meinem Entsetzen hatte Annie offenbar meine Gedanken gelesen.
»Ich hole dich nicht raus, wenn du dich hinter dem Ofen versteckst.« Sie lächelte.
»Ich bin ziemlich anspruchsvoll. Bis jetzt war ich erst mit drei Männern im Bett«, sagte Annie.
»Auf einmal?«
»Perversling.« Sie lächelte. »Das mit uns ist etwas ganz Besonderes.«
Sie zog mich in ihre Wohnung. Auf den ersten Blick wirkte alles ganz normal, bis auf die geradezu klinische Sauberkeit.
»Nat, die Sache ist mir unheimlich«, sagte Annie mit gesenkter Stimme, als traute sie sich nicht, die Vorstellung bis zu Ende zu denken. »Gibt es das wirklich?«
Ich lachte. »Das frage ich mich auch.«
Als sie mich ins Schlafzimmer führte, fielen mir die fein säuberlich an der Decke befestigten, bunten Weihnachtslichter auf. Zumindest brannten die Lämpchen nicht.
»Die wollte ich schon vor einem halben Jahr abnehmen«, erklärte Annie. »Im Auspacken bin ich immer besser als im Wegräumen.«
»Ist doch klar. Wenn man die Wohnung schmückt, denkt man an Urlaub, Feiern und Geschenke. Mit dem
Abnehmen ist alles zu Ende. Dann bleibt nur noch der Winterschlaf.«
»Sehr tiefschürfend«, meinte sie. »Eigentlich kann ich nur den Karton nicht finden.«
Wenn sie lachte, funkelten ihre Augen vor Glück und Verlangen. Ich verlor mich in ihnen.
Danach sah ich mir ihren Nachttisch genauer an. Er war leer, bis auf einen mechanischen Wecker mit schwarzen Metallzeigern und zwei Bücher mit festem Einband: Herz der Finsternis von Joseph Conrad und ein Kinderbuch.
»Nat, hast du schon einmal jemandem das Leben gerettet?«, fragte Annie. »Du weißt schon, in Erfüllung deiner Pflicht.«
Ich erzählte ihr, dass ich zwei Jahre zuvor beobachtet hatte, wie ein Geländewagen vor einem Einkaufszentrum eine schwangere Frau überfuhr. Ich hatte kardiopulmonale Reanimation durchgeführt, wie es jeder mit Erste-Hilfe-Kenntnissen getan hätte. Die Frau starb, das Baby überlebte. Der Ehemann verklagte mich, weil ich die Wirbelsäule seiner Frau nicht stabilisiert hatte. Seine Klage wurde abgewiesen, aber es war eine schmerzliche Erfahrung gewesen.
»Dem hätte ich den Kragen umgedreht«, sagte Annie. »Was gibt es da zu lachen?«, fragte sie nach einer Pause.
Ich lächelte tatsächlich. Im Bruchteil einer Sekunde war meine Stimmung vollständig umgeschlagen.
»Ich ärgere mich schon lange nicht mehr darüber«, erwiderte ich. »Im Grunde empfinde ich eigentlich gar nichts mehr.«
Ich griff nach dem Kinderbuch, das »Annie, einem
wunderbaren Mädchen, das eines Tages die Welt regieren könnte«, gewidmet war.
»Wieso willst du wissen, ob ich schon mal jemandem das Leben gerettet habe?«
»Man weiß nie, wann man einen Retter braucht, Herr Doktor«, gab sie verschmitzt zurück.
Die folgenden beiden Tage verbrachten wir im Bett. Nicht dass wir uns ausschließlich der fleischlichen Lust hingegeben
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