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Süchtig

Titel: Süchtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Richtel
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Erin.
    »Ich habe ein abgeschlossenes Medizinstudium, aber ich praktiziere nicht, habe keine Erfahrung und bin nicht auf dem aktuellen Stand.«
    »Also sind Sie Arzt.«
    Sie schien zu neuem Leben zu erwachen. Es sah aus, als lächelte sie, ohne die Lippen zu bewegen. Sie hatte die Brille abgenommen, und ihre tiefbraunen Augen hielten mich in ihrem Bann.
    Ich erklärte ihr, dass meine Freunde auffällig viele junge Asiatinnen mit HIV behandelt hatten. Es war klar, dass die Frauen als Prostituierte arbeiteten. Die Frage war nur, wo. Wie sich herausstellte, schalteten die Bordelle unter allen möglichen Tarnnamen Anzeigen in den lokalen Werbeblättern. Ich wandte mich an einen »Begleitservice«, wo man mir eine Adresse im Sunset District nannte. Der Rest war journalistische Kleinarbeit. Ich lernte verschiedene Mädchen kennen, unter anderen Azlina Hathimar alias Daisy. Die Frauen kamen aus Malaysia und Vietnam und wollten sich ihre Freiheit erkaufen.
    »Und warum sind die Mädchen nicht zur Polizei gegangen?«, fragte Erin.

    »Weil einige der Freier Polizisten waren und sie nicht wussten, wem sie trauen konnten.«
    »Verdammte Bullen.« Sie wandte den Blick ab.
    Ich hatte mich selbst an die Polizei wenden wollen, aber dann überstürzten sich die Ereignisse. Als ich zu weiteren Recherchen ins Bordell kam, fand ich Azlina, die von einem Streifenbeamten namens Aravelo zusammengeschlagen worden war. Ich weiß nicht, ob sie überlebt hätte, wenn ich nicht sofort mit der Behandlung begonnen hätte. Die Zuhälter hätten vielleicht nicht einmal einen Krankenwagen gerufen.
    »Und jetzt untersuchen Sie den Anschlag auf das Café? Brauchen Sie ein neues Projekt?«
    Sie ließ den Motor an.
    »Wohin fahren wir?«
    »Nach Cole Valley. Ich bringe Sie später zu Ihrem Auto zurück.«
    Das war nicht die Erin, die in der Kindertagesstätte vor mir geflohen war. Diese hier hielt in jeder Beziehung das Steuer in der Hand und machte einen enorm kompetenten Eindruck.
    Erin zückte einen Kugelschreiber, der aussah, als hätte ihn jemand halb durchgebissen.
    »Was halten Sie davon?«
    »Sie haben Waschbären.«
    »Das war Andy. Mit den Zähnen.«
    Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Andy war und warum Erin mir von ihm erzählte.
    »Andy hat vor zwei Wochen Selbstmord begangen«, erklärte sie. »Sie sagen, er hat sich von der Golden Gate Bridge gestürzt. Dabei passt das überhaupt nicht zu ihm.«

    »Wer sind ›sie‹?«
    Sie schüttelte nur den Kopf.

    »War Andy Ihr Lebensgefährte?«
    »Eigentlich nicht. Er war so lieb und so witzig. Er … Vor zwei Monaten bekam er auf einmal schreckliche Kopfschmerzen.«
    Ich drehte mich um, um mir eine Flasche mit Wasser vom Rücksitz zu nehmen, die ich beim Einsteigen dort gesehen hatte. Die Rückbank und der Fußraum davor waren mit Kleidung, Lebensmittelverpackungen und zusammengeknüllten Papieren bedeckt. Selbst eine abgegriffene Bibel war im Angebot. Im Gegensatz zu Annie war Erin offenbar keine Ordnungsfanatikerin.
    »Das ist zu vage«, sagte ich. »Ich brauche mehr Informationen.«
    Nicht dass es mich besonders interessiert hätte, aber für mich konnte es nur günstig sein, wenn ich Erin zum Reden brachte. Vielleicht sagte sie etwas, das ein neues Licht auf die Verbindung zwischen Annie und dem Café warf – sofern es eine gab.
    Auf jeden Fall würde ich so etwas über Erin erfahren.

    Sie arbeitete seit zwei Jahren in dem Café, als sie Andy Goldstein kennenlernte. Er war ein großer, schlaksiger Mensch mit aschblondem Lockenkopf, der an manchen Tagen aussah, als hätte er zu viel Dünger abbekommen. Andy unterrichtete die fünfte Klasse einer Privatschule. Während des Schuljahrs kam er gelegentlich nach dem Unterricht vorbei, um seine Arbeit – und
die Kinder – zu vergessen. Die heilende Kraft des Gerstensaftes helfe ihm dabei, meinte er scherzhaft.
    Erin und Andy wurden gute Freunde. Sie gingen gemeinsam zum Skatepark, um zu reden, obwohl die Skateboards einen höllischen Lärm machten. Manchmal erzählte Andy den Kids allen Ernstes, er sei ein Talentscout von MTV, weil er herausfinden wollte, ob das die Jugendlichen eher beflügelte oder verunsicherte. Andy hatte zu allem seine Theorie. So behauptete er steif und fest, man könne ein gutes chinesisches Restaurant am Reis erkennen. Außerdem teilte er die Welt in zwei Klassen ein: diejenigen, die im Aufzug den Knopf für das gewünschte Stockwerk nur einmal betätigten, und diejenigen, die ihn bei jedem Halt wieder drückten. Andy

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