Süchtig
war stark und selbstbewusst, er brachte sie zum Lachen und gab ihr Geborgenheit.
»Für mich war er wie ein Sonntagnachmittag«, sagte Erin.
»Was heißt das?«
»Ich hatte das Gefühl, ich kann in aller Ruhe ein Nickerchen halten, ohne Angst zu haben.«
Eigentlich hatte Andy in den Sommerferien Vietnam und Thailand bereisen wollen. Stattdessen hatte er sich entschlossen, seine Abschlussarbeit für den Master-Titel zu schreiben. Die beiden kamen sich sehr nah. Dann fing Andy an, sich merkwürdig zu benehmen.
»Ein paar Wochen lang war er extrem nervös. Schließlich wurde er müde. Er war reizbar und gemein. Einmal rastete er völlig aus, weil auf seinem Caffè Latte nicht genug Schaum war.«
Er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er schlief unruhig und hatte seltsam lebendige Träume.
»Als die Kopfschmerzen anfingen, war er geradezu erleichtert. Zumindest war das ein Symptom, mit dem die Ärzte etwas anfangen konnten.«
Die ersten Tests ergaben keinen Hinweis auf Krebs, brachten aber keine Diagnose. Dann suchte er einen Neurologen auf, der komplizierte Untersuchungen durchführte und dabei auf eine Störung stieß. Eine genauere Erklärung bekam Erin nicht, aber zumindest bestand Hoffnung.
Zwei Tage später sprang er von der Golden Gate Bridge.
Ich versuchte, mich an meine Grundkenntnisse in Psychologie und Neurologie zu erinnern. Andy war reizbar gewesen und hatte lebhafte Träume gehabt. Offenkundig hatte eine Selbstmordneigung bestanden. Anzeichen für eine psychotische oder schizophrene Episode? Ich wusste noch, dass solche Erkrankungen hauptsächlich bei Menschen in den Dreißigern zum Ausbruch kamen. Aber es passte nicht zum Rest der Geschichte.
Nicht weiter ungewöhnlich schienen mir die Umstände seines Todes. Die Golden Gate Bridge gehört zu den Orten mit der höchsten Selbstmordrate der Welt. Deswegen wird auch heftig darüber gestritten, ob die Stadt San Francisco eine Absperrung anbringen soll, die das Springen erschwert. Die Gegner dieser Maßnahme sind der Ansicht, das würde hässlich aussehen und wäre außerdem zu teuer – ein Argument, das mich daran zweifeln lässt, ob San Francisco wirklich weniger oberflächlich ist als Los Angeles, wie hier gern behauptet wird.
Ich fragte Erin, ob sie der Polizei von Andy erzählt hatte.
»Bis auf die Befragung direkt nach der Explosion habe ich mit niemandem gesprochen.«
»Lieutenant Aravelo?«, fragte ich.
»Bei Ihnen auch?«
»Ja.« Ich verzog das Gesicht. »Es tut mir leid. Die Geschichte ist wirklich tragisch, aber ich kann keinen Zusammenhang mit der Explosion erkennen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ein merkwürdiger Zufall.« Ihre Stimme kam wie aus weiter Ferne, aber sie klang entschlossen. »Irgendwas ist da schiefgegangen. Im Café, meine ich.«
Ich ließ mir den Gedanken durch den Kopf gehen. Warum war sie so sicher? Das, was sie mir erzählt hatte, lieferte mir keine Anhaltspunkte dafür.
»Miss Coultran, als wir an der Kindertagesstätte miteinander gesprochen haben, haben Sie gesagt: ›Sie haben die Falsche.‹ Und dann haben Sie mich gefragt, was ich getan habe. Warum?«
Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hatte ich Schuldgefühle.«
»Schuldgefühle?«
»Weil ich noch am Leben bin«, sagte sie leise. »Ich will Ihnen etwas zeigen«, setzte sie hinzu.
12
Cole Valley liegt direkt oberhalb von Haight-Ashbury, das in den Sechzigerjahren durch seine Love-ins berühmt wurde. Heute werden dort in erster Linie Batik-T-Shirts verkauft. Dagegen steht Cole Valley offen zu seinem Reichtum. Hier wimmelt es nur so von teuren Audis und Platin-Kreditkarten.
In Cole Valley befand sich auch Andys Wohnung, deren Einrichtung aus zu Bücherregalen umfunktionierten Obstkisten, zusammengewürfelten Möbelstücken in allen Farbtönen und einer Hängematte bestand. An der Wand über dem Fernsehgerät, das offenbar aus den Siebzigerjahren stammte, hing ein Poster von Einstein. Flohmarktschick. Mathematiklehrer-Design. Erin reichte Tee in Plastikbechern, die dem Aufdruck zufolge vom jährlichen Stadtlauf stammten.
Sie erklärte mir, dass sie den Schlüssel zu Andys Wohnung besaß, es aber bis jetzt nicht über sich gebracht hatte, sie auszuräumen.
Sie zeigte mir ein Foto, auf dem er am Lagerfeuer saß. Sein naives Lächeln überstrahlte alles. Er hatte wirres blondes Haar, und seine Kleidung sah aus, als stammte sie aus der Kleiderkammer der Heilsarmee. Andy war offenbar ein unkomplizierter Mensch gewesen.
»Ich bin kein
Weitere Kostenlose Bücher