Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Süchtig

Titel: Süchtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Richtel
Vom Netzwerk:
Arzt«, sagte ich wieder.
    »Aber Sie haben ein abgeschlossenes Medizinstudium. Und dumm sind Sie auch nicht. Ich will nur verstehen, wie das passieren konnte. Hören Sie mir zu.«
    Plötzlich verlor ich die Geduld.
    Ich holte das Foto aus meiner Brusttasche und legte es auf den Tisch. Es war eines dieser altmodischen Bilder mit weißem Rand im Format zehn mal fünfzehn. Annie stand auf einem Felsen. Im Hintergrund war der Lake Tahoe zu sehen.
    »Eine schöne Frau«, stellte Erin fest. »Ist das die mit der Nachricht?«
    Ich wusste es nicht, und das sagte ich ihr auch. Sie griff nach dem Foto.
    »Die habe ich noch nie gesehen.«
    »Sind Sie ganz sicher?«
    »Tut mir leid.«
    Unsere Blicke begegneten sich, aber Erin sah sofort wieder weg. Ich ließ Annies Foto in meiner Tasche verschwinden, damit es mich nicht mehr an sie erinnerte. Dann sah ich mir den Kugelschreiber an.
    »Es ist gar nicht so schwer, einen Stift durchzubei ßen.«
    Noch während ich sprach, hätte ich meine Worte am liebsten zurückgenommen. Was wollte ich damit sagen? Natürlich war es nicht schwer, einen Stift durchzubeißen, aber warum tat jemand so etwas? Stress oder eine aggressive orale Fixierung?
    »Andy war selten schlechter Laune. Er konnte auf dem Fußboden vor dem Fernseher einschlafen und erst am nächsten Morgen aufwachen. Aber vor ungefähr zwei Monaten kam er ins Café und sagte, er hätte die
ganze Nacht nicht geschlafen. Offenbar hatte er von einem Shopping-Kanal zum anderen gezappt und war völlig überdreht.Ermachteeinen Typen nach, der Beruhigungsmusik für Hunde verkaufte. Das war ziemlich komisch.«
    Aber als er die nächsten Nächte auch nicht schlafen konnte, fand er es nicht mehr so komisch.
    »Hatte sich irgendwas in seinem Leben verändert? Nahm er mehr Koffein zu sich? War er aus irgendeinem Grund gestresst? Hatte er weniger Bewegung als früher?«
    »Nein. Er suchte selbst nach einer wissenschaftlichen Erklärung. Wir lasen die Zutatenliste auf allem, was er aß.«
    »Was war mit seinem Tagesablauf?«
    »Er nahm alles viel ernster.«
    »Ernster? Meinen Sie, er war reizbar, weil er so wenig schlief?«
    Erin nippte an ihrem Tee. »Ich glaube, seine Recherchen beschäftigten ihn sehr.«
    Mir fiel auf, dass Erin manchen Fragen geschickt auswich.
    Andy schrieb seine Abschlussarbeit über die Auswirkungen des gemeinsamen Sorgerechts bei geschiedenen oder getrennt lebenden Eltern. Dabei befasste er sich in erster Linie mit Kindern, die im wöchentlichen Wechsel bei beiden Elternteilen lebten. Am Ende hatte er eine ansehnliche Gruppe von Schülern zusammen, mit denen er über das Internet korrespondierte.
    »Ein Erwachsener, der E-Mails an Kinder schreibt? Hat er dabei irgendwelche Eltern verärgert? Wurde er vielleicht bedroht?«

    Nein, meinte Erin. Andy habe die betroffenen Familien immer um Erlaubnis gebeten. Außerdem sei das Projekt von der Universität betreut worden.
    Und die Kopfschmerzen ließen sich mit meiner Theorie auch nicht erklären.

    Das gab mir zu denken. Die Ursache für Andys Schlaflosigkeit war unklar. Seine Reizbarkeit und die Kopfschmerzen ließen sich dagegen durch die physiologische Tatsache erklären, dass der Körper ausreichend Ruhe benötigt, um sich zu erholen. Ist das nicht der Fall, wird vermehrt Adrenalin ausgeschüttet. Eine Verteidigungs- und Fluchtreaktion setzt ein, die den Körper aus dem Rhythmus bringt, was sich auch auf die geistigen Funktionen auswirkt.
    Als ich aufsah, hatte Erin einen Laptop auf den Tisch gestellt und drehte den Bildschirm in meine Richtung. Darauf stand in tausendfacher Wiederholung das Wort »Ping«.
    »Einmal sahen wir uns zusammen einen Film an, weil er sich besonders schlecht fühlte. Ich verbrachte die Nacht auf der Couch. Als ich aufwachte, saß Andy auf der Treppe vor der Haustür und schrieb immer wieder das Wort ›Ping‹. Er sagte, das würde er schon seit Stunden machen, um sich die Zeit zu vertreiben.«
    Mir fiel auf, dass die Leertaste eingedellt und gesprungen war.
    »Ich habe Andy gefragt, wie das passiert ist. Angeblich hat er zu fest auf die Taste gedrückt«, erklärte sie.
    Ich erkundigte mich, ob Andy Tagebuch geführt hatte. Vielleicht gab es Einträge, die seinen Gemütszustand erklärten.

    »Das wüsste ich auch gern.« Erin war plötzlich hellwach. »Ich habe eine Tagebuchdatei gefunden, aber ich kenne das Passwort nicht.«
    Dazu brauchte sie mich also: um an Andys intimste Gedanken heranzukommen. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich

Weitere Kostenlose Bücher