Süchtig
schlimmer.«
»Dann kannst du mich vielleicht aufklären. Was
wird hier gespielt? Für wen hält dein Vater sich? Und für wen hält er mich?«
Sie sagte, ihr Vater sei ein überbesorgter Egomane, der sich durch unsere Beziehung bedroht fühle. Außerdem habe er Angst vor einem Abflauen des Dotcom-Booms und stehe daher unter Entscheidungsdruck.
Anstatt mich mit ihm anzulegen, solle ich sie lieber auf ihrer bevorstehenden Geschäftsreise nach New York begleiten. Dort werde sie mir ihre Welt aus erster Hand zeigen, mir von ihrer Familie erzählen, mich bei Kindle Investment Partners einführen.
Ich hoffte verzweifelt, dass die nächsten Wochen Klarheit bringen würden.
Das Gegenteil war der Fall.
18
»Küss mich.«
Ich stand mit Annie auf der Aussichtsplattform des Empire State Building und musste unwillkürlich daran denken, dass mein Vater als Kind von einem Vogel angegriffen worden war. Die Attacke hatte sich auf einer Hängebrücke ereignet, was nach Ansicht meines Vaters seine Höhenangst ebenso erklärte wie seine Vogelphobie. Wenn wir mit ihm als Kinder Skifahren gingen, drückte er uns so fest in den Sessellift, dass wir selbst Angst bekamen.
Aber als ich mit Annie auf der Aussichtsplattform stand, fühlte ich keine Furcht. Das lag wohl daran, dass ich sie im Arm hielt und mir einbildete, ich wäre ihr Beschützer. Das Zusammensein mit ihr berauschte mich derart, dass ich alles andere vergaß. Es war ein weitgehend perfekter Tag. Wir erwachten in einem Hotel in Midtown, frühstückten im Bett und verbrachten den Vormittag im Bronx Zoo. Annie schien entzückt von den Affen, dem kleinen Elefanten und den Tigern, und ich freute mich über Annies Begeisterung.
Meine Erziehung begann bereits auf dem Flug – in der ersten Klasse. Unterwegs zeigte sie mir einen Stapel Dokumente, die mit ihrer Arbeit als Investmentmanagerin
zu tun hatten und für mich etwa so fesselnd waren wie organische Chemie.
»Woher weißt du überhaupt, was das bedeutet?«, fragte ich.
»Weißt du es denn nicht?«, fragte sie zurück.
Sie erklärte mir, wie sie sich mit ihrem Vater arrangiert hatte, der ihr vorschreiben wollte, wie sie ihre Arbeit zu tun hatte. Hielt sie sich nicht daran, riskierte sie seinen Unwillen – außer es gelang ihr, seine Erwartungen zu übertreffen. Sie brauchte diese Herausforderung, um sich selbst zu respektieren.
Das Unternehmen, das wir besuchen wollten, nannte sich Vestige Technologies und schrieb Software für das Lieferkettenmanagement. Annie sprach von »automatisierter Verwaltung des Lagerbestands«.
Sie erklärte mir überzeugend, warum Kleinanleger ihr sauer Erspartes in Internetfirmen investierten und dabei schwere Fehler machten. Die meisten Anleger konnten sich am ehesten etwas unter Firmen vorstellen, deren Zielgruppe Endverbraucher waren. Online-Buchhändler oder -Supermärkte zum Beispiel. Manche dieser Unternehmen würden sich durchsetzen, die meisten nicht.
Tatsächlich ließ sich jedoch vor allem mit Infrastrukturprodukten für Firmenkunden Geld verdienen und Marktmacht gewinnen. Der Erfolg eines Unternehmens hing davon ab, wie kostengünstig es arbeitete. Die Firmen mussten also ihre Kosten senken, wobei der größte Posten häufig die menschliche Arbeitskraft war. Der nächste Quantensprung im Kapitalismus hieß folgerichtig Computerautomation. Wirtschaftlichkeitsrechnungen zeigten, dass durch die Automatisierung
der Abläufe nicht nur das Unternehmen insgesamt effizienter wurde, sondern auch die Produktivität des einzelnen Beschäftigten wuchs. Bisher allgemein akzeptierte wirtschaftliche Prinzipien standen auf dem Prüfstand. Mit weniger Beschäftigten ließen sich signifikant höhere Gewinne erzielen.
Eine wichtige Rolle bei dieser Kostensenkung spielten Softwareprogramme für das Lieferkettenmanagement. Die Automatisierung von Teilebeschaffung, Hersteller-Kunden-Beziehung und interner Personalverwaltung stand noch ganz am Anfang.
Das klang nicht gerade aufregend, aber mit Firmen wie Vestige ließen sich Milliarden verdienen. Wer davon profitieren wollte, musste zu einem möglichst frühen Zeitpunkt investieren. Genau das taten Risikokapitalanleger wie Kindle Investment Partners und seine Kommanditisten in Erwartung eines spektakulären Wachstums.
Was Investitionen in der Frühphase eines Unternehmens anging, war Annies Vater ein Meister.
»Und jetzt sollst du in seine Fußstapfen treten«, meinte ich.
»Wenn ich dir nicht begegnet wäre«, erwiderte sie kokett, »wäre
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