Süchtig
daraus vielleicht sogar etwas geworden.«
Am folgenden Tag aßen wir im Central Park zu Mittag und nahmen dann ein Taxi zum dritthöchsten Gebäude New Yorks, dem Empire State Building. Dann standen wir oben auf der Aussichtsplattform
»Wieso tust du das?«, fragte ich ganz dicht an ihrem Mund.
Sie küsste mich. »Weil du nach Pizza und Kaugummi schmeckst.«
»Diese Arbeit«, sagte ich. »Für mich klingt es, als wärst du damit unglücklich. Du hattest so viel Spaß im Zoo. Warum entscheidest du dich nicht für ein ruhigeres Leben, ganz gleich, wie das aussieht?«
Eine Böe packte uns, und ich schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, damit sie keine kalten Ohren bekam.
»Nat, kannst du schnattern wie ein Affe?«, fragte sie, offenbar zu Späßen aufgelegt.
Ich tat ihr den Gefallen.
»Ich bewundere dich dafür, dass du deine Karriere als Mediziner aufgegeben hast und deinen eigenen Weg gehst. Und dass du dir regelmäßig Zeit für ein Nickerchen nimmst. Dafür liebe ich dich.« Nun wurde sie ernst. »Aber nur weil mein Leben nicht deiner Vorstellung von friedvoller Gelassenheit entspricht, ist es noch lange nicht falsch. Dieses Umfeld ist mein Lebenselixier. Ich will erfolgreiche Firmen aufbauen, neue Geschäftsfelder erschließen und viel Geld verdienen. Und danach gehe ich nach Hause und verbringe meine Freizeit im Streichelzoo.«
Wir schafften es nicht bis zum Abendessen. Ich hatte bereits geduscht und mich dem Anlass entsprechend angezogen, aber Annie kam einfach nicht aus dem Bad. Schließlich klopfte ich.
»Komm rein.«
Sie saß voll angezogen in Minirock und schwarzen Strümpfen auf der Toilette – ein umwerfender Anblick, wäre da nicht der verschmierte rote Lippenstift in ihrem Mundwinkel gewesen. Es sah aus, als hätte sie sich absichtlich mit diesem Clownsmund verunstaltet.
»Kannst du noch mal schnattern wie ein Affe?«, fragte sie mit gekünstelter Fröhlichkeit.
»Was ist los?«
»Du liebst mich nicht wirklich«, behauptete sie.
»Was?«
»Das hier ist alles nicht echt.«
Ich griff nach einem Kosmetiktuch. »Der Lippenstift muss dir zu Kopf gestiegen sein.« Ich wischte ihr Mund und Kinn ab. »Ich liebe dich von ganzem Herzen. So habe ich noch nie jemanden geliebt.«
Dann erzählte sie mir eine Geschichte. Als sie sechzehn war, hatte ihr Vater ihr einen Ferienjob bei einem Republikaner besorgt, der sich um einen Sitz im Kongress bewarb. Sie ging lieber zu dem demokratischen Gegenkandidaten. Daraufhin erschien ihr Vater im Wahlkampfzentrum der Demokraten und brüllte sie in aller Öffentlichkeit nieder. Für sie war das eine furchtbare Demütigung. Später zeigte er ihr einen Zeitungsausschnitt, in dem der demokratische Kandidat beschuldigt wurde, Jahre zuvor eine Affäre mit seinem ausländischen Kindermädchen gehabt zu haben, das sich illegal in den Vereinigten Staaten aufhielt. Annie verdächtigte ihren Vater, die Zeitung selbst informiert zu haben.
»Der Mann ist ja wahnsinnig«, sagte ich.
Für Annie lagen die Dinge nicht so einfach. »Als ich klein war, haben wir viel gemeinsam unternommen. Wir waren im Zoo, wir gingen auf Reisen. Aber am schönsten fand ich unsere Skiurlaube. Nicht das Skifahren selbst, sondern den Sessellift. Ganz allein mit Daddy schwebte ich durch die Luft. Er fragte mir Löcher in den Bauch und wollte wissen, was ich zu den verschiedensten
Themen dachte. Wenn die Fahrt zu Ende war, war ich so traurig, dass ich so schnell wie möglich ins Tal fuhr, damit wir wieder den Lift nehmen konnten. Dann wurde ich älter und unabhängiger.«
Sie wischte sich das Make-up vom Kinn.
»Hat er das Gefühl, dich zu verlieren?«
»Vielleicht. Mein Vater ist Pragmatiker. Beziehungen sind ihm wichtig, aber für ihn sind sie Verbrauchsgüter. Wenn er sein Ziel erreicht hat, werden sie abgehakt. Auf keinen Fall dürfen sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Er hat seine eigene Definition von … Liebe. Emotionen stehen für ihn auf derselben Stufe wie materieller Besitz. Er findet sie angenehm unterhaltsam, solange sie nicht außer Kontrolle geraten.«
Alles Weiche war von ihr abgefallen.
Ich berichtete ihr, was er über den SkyMall-Katalog gesagt hatte, und sie quittierte es mit einem schwachen Lächeln. Dann erzählte sie mir, sein Keller sei voll von Spielereien, die er über Katalog bestellt hatte. Zu seinen Erwerbungen gehörten unter anderem eine Katzentränke, die stets für frisches, mit Sauerstoff angereichertes Wasser sorgte, Koffer mit ergonomischen Griffen und
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