Süchtig
Zuerst hatte sie Andys Wohnung überprüft, die unberührt schien. Dann hatte sie seinen Vermieter angerufen. Der hatte zwar keinen Elektriker beauftragt, aber dafür Leute vom Kabelfernsehen, die seit ein paar Wochen in dem Gebäude arbeiteten.
Als wir über die Golden Gate Bridge fuhren, fiel mir ein, dass ich in wenigen Stunden Sergeant Weller treffen sollte und wollte. Er versorgte mich mit Informationen, an die ich auf offiziellem Weg nicht herankam, und ich hatte eine Menge Fragen. Ich fing an, seine Nummer zu wählen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Erin. »Warum schalten Sie das Ding nicht für eine Stunde aus?«
Ich schlief nicht richtig, schaffte es aber zumindest, einen gewissen Ruhezustand zu erreichen. Dazu entspannte ich die Kiefermuskeln und ließ meinen Blick verschwimmen, wie ich es von Samantha gelernt hatte. Ich konzentrierte mich nur noch auf das Bild vor mir. Hokuspokus vielleicht, aber ohne Tequila und Limetten
fiel mir nichts Besseres ein. Während ich im Geiste die Kennzeichen der Wagen vor uns herunterbetete, spürte ich, wie die Anspannung aus meinem Kiefer wich. Dennoch zuckte mein Augenlid unwillkürlich. Die elektrische Aktivität in meinem Gehirn entlud sich in einem Blepharospasmus, einem Lidkrampf. Ich zwinkerte energisch, aber es gelang mir nicht, meine Gedanken auszublenden. Annie verfolgte mich.
In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte ich erfahren, dass es einen Andy Goldstein und eine Familie Anderson gab, und hatte im Polizeipräsidium auf einem grobkörnigen Foto eine Blondine in einer gelben Bluse identifizieren sollen. Stets sah ich im Hintergrund Annie, und ihr Bild vermischte sich mit der Landschaft draußen vor dem Fenster.
Im Handumdrehen hatten wir die Städte und Dörfer hinter uns gelassen. Vor uns erhoben sich grüne Berge.
Die Schweizer Alpen, die italienische Küste, Aspen – das nördliche Kalifornien ist ihnen allen über. Fahren Sie von San Francisco aus ein paar hundert Kilometer, ganz gleich in welche Richtung: Sie landen unweigerlich im Paradies. Santa Cruz. Lake Tahoe. Das Napa Valley. Berge, die bis zum Himmel reichen. Eine atemberaubend schöne Küste mit wilden Steilhängen.
»Sarah.«
Plötzlich war ich hellwach.
Wir hatten auf die rechte Spur gewechselt, um vom Highway abzufahren.
»Erklären Sie mir, was das heißen soll«, sagte Erin. »Aber erst geben Sie mir die Landkarte.«
Ich suchte im Handschuhfach nach einem Atlas. Dann kam ich auf den Punkt.
»Lieutenant Aravelo hat mir ein Bild von einer Frau gezeigt.«
»Noch ein Foto?« Erin klang überrascht.
Ich hatte die Person nicht erkannt, aber mir war jemand eingefallen, der sie vielleicht kannte – Annies beste Freundin. Vielleicht hatte Sarah eine Ahnung, warum ich eine Nachricht in Annies Handschrift erhalten hatte.
Mir war immer etwas unbehaglich zumute, wenn ich mit Sarah zusammen war, aber ich hatte trotzdem eine Schwäche für sie. Vor allem nach der Rede, die sie bei Annies Beerdigung gehalten hatte. Sie begann mit einer Anekdote. Als Annie elf war, fand am See ein Zehn-Kilometer-Lauf statt. Es war ein heißer Augusttag, und ihr Vater witterte das große Geschäft. Er setzte sie mit einer Familienpackung Erdbeereis in einer mit Eiswürfeln gefüllten Kühltasche und einem Schild mit der Aufschrift »Kugel ein Dollar« an die Rennstrecke.
Annie hatte keine Lust, Eis zu verkaufen, aber ihr Vater hielt das Unternehmen für eine lehrreiche Erfahrung. Als er am Nachmittag wiederkam, war das Eis weg. Annies gesamte Einnahmen beliefen sich auf einen Dollar. Auf seine Frage erklärte sie ihm, sie habe eine Stiftung gegründet.
Die Trauergemeinde brüllte vor Lachen. Aber es gab noch eine zweite Pointe. Ein wohlmeinender Passant hatte sie dabei beobachtet, wie sie ihr Eis verschenkte, und revanchierte sich. Er selbst hatte einen Wurf Labradorwelpen in einem Korb dabei, die er eigentlich
verkaufen wollte. Annie bekam einen davon umsonst.
»Bitte um Erlaubnis, mein Handy zu benutzen«, sagte ich zu Erin.
Sie lächelte mütterlich und schüttelte weise den Kopf. »Sie haben ein Problem mit dem Ding.«
Ich wählte Sarahs alte Nummer und hinterließ eine lange, wirre Nachricht, die damit endete, dass ich sie etwas zu unserer verstorbenen gemeinsamen Freundin fragen wollte.
Erin legte mir die Hand aufs Knie und lächelte. »Tun Sie das Ding weg, bevor jemand zu Schaden kommt.«
»Schuhe aus«, sagte Erin.
Sie trug eine Tüte mit Einkäufen in die Küche. Als Gentleman hätte
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