Süchtig
Meine Arme fühlten sich an wie Stalaktiten aus blauem Eis.
Ein Panter heulte auf und sprang mir auf die Brust. »Bring mir einen Schoko-Milkshake, Turtle«, sagte er. »Ich warte.«
Hatte ich laut aufgeschrien? Es war dunkel. Ich lag in dem Ferienhaus auf der Couch und hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen. Das reichte nicht. Nachdem ich zwanzig Minuten lang unter der Dusche gestanden
hatte, zitterte ich immer noch. Der Stress der vergangenen beiden Tage drohte mich einzuholen. Der Körper verträgt viel mehr, als wir gemeinhin annehmen. Bestes Beispiel dafür sind die Dreißig-Stunden-Schichten, die Assistenzärzte üblicherweise arbeiten. Aber der Arzt weiß, dass seine Schicht irgendwann vorbei ist. Anhaltender Stress ohne Aussicht auf ein Ende führt zu einer noch stärkeren Ausschüttung der für die Verteidigungs- und Fluchtreaktion zuständigen neurochemischen Substanzen. Die Dosis wird gefährlich hoch.
Erin hatte uns ein Festmahl gekocht: Braten mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen. Ein Essen, das angeblich gegen Kummer half, das hatte sie in ihrer Jugend im Mittleren Westen gelernt.
»Wenn Sie sich was anziehen, schmeckt es gleich noch besser«, meinte sie.
Beim Essen hatten wir zum ersten Mal Gelegenheit, uns richtig zu unterhalten. Erin war in East Lansing, Michigan, aufgewachsen. Ihre Mutter war Lehrerin, ihr Vater Diakon einer Kirchengemeinde – ein liebevoller Patriarch, dem Disziplin über alles ging. Nach außen hin behandelte er alle Menschen gleich, aber sie wusste genau, was er tatsächlich von den Leuten aus dem Schwarzengetto hielt. In ihrer Familie gab es keinen Satz ohne »Bitte« und »Danke«. Ihre Mutter war eine Intellektuelle, die ihr Licht unter den Scheffel stellte und mit ihrem Ehemann nicht über die Bücher sprach, die sie las. Als Kind hatte Erin sie mehrfach dabei ertappt, wie sie subversive Literatur mit dem Schutzumschlag eines Liebesromans tarnte. Als sie jünger war, hatte sie versucht, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Wie nicht anders zu erwarten, hielten seine
strengen Überzeugungen den Erfahrungen, die sie in ihrem eigenen Leben machte, nicht stand.
Damit sie nicht vom rechten Weg abkam, brach sie ihr Studium an der University of Michigan nach dem ersten Jahr ab und heiratete ihre Highschool-Liebe. Er war das Ebenbild ihres Vaters.
»Meine Freundinnen und ich nannten ihn den Bibelgürtler.«
»Weil er so religiös war?«
»Weil er mich mit dem Gürtel verprügelte.« Sie lächelte bei diesen Worten, als könnte sie nicht glauben, dass ihr tatsächlich so etwas passiert war.
Zuerst gab sie sich selbst die Schuld und wollte sich von niemandem etwas sagen lassen – bis ihr schließlich ein Licht aufging. Zum großen Kummer ihrer Mutter zog sie nach Westen. Sie wollte herausfinden, ob es Teile ihrer Persönlichkeit gab, die sie verdrängt hatte. Da war sie nicht die Einzige. Haight-Ashbury glich inzwischen zwar eher einem einzigen großen Flohmarkt, aber immer noch strömten Menschen auf der Suche nach sich selbst nach San Francisco. Die schwarzen Schafe aus den Südstaaten und dem Mittleren Westen füllten ganze Karawanen von VW-Bussen. Sie gehörten zu der Generation, die alles ausprobierte: vom Freiklettern über Hot Yoga bis zu Nachtgolf. Manchmal alles an einem Tag, wobei sie eines nach dem anderen abzuhaken schienen, ohne es je wirklich zu genießen.
Erin hatte sich auf die Politik gestürzt, an verschiedenen Demonstrationen teilgenommen und sich vor allem für die Gleichberechtigung der Frau engagiert. Die Tanzgruppe für Frauen mit sozialem Bewusstsein im
Mission District, wo ich nach ihr gesucht hatte, war ihre letzte derartige Aktion gewesen.
»Ist Tanz mit sozialem Bewusstsein Veganern vorbehalten?«, erkundigte ich mich.
Sie lachte. »Es geht um freie Bewegungen ohne Gewalt. Allerdings haben wir einmal im Monat eine rhythmische Attacke geübt – für den Fall einer Misshandlung im häuslichen Umfeld. Ich habe einen imaginären Karateschlag entwickelt, mit dem ich den Angreifer außer Gefecht setzen wollte.« Sie wurde nachdenklich. »Ich hasse Heuchelei. Zuerst dachte ich, so etwas gäbe es nur bei der Regierung oder in der Kirche, aber mittlerweile musste ich feststellen, dass manche meiner Freundinnen linke Fanatikerinnen sind. Sie hassen alles, was ihre Vorstellungen infrage stellen könnte, weil sie selbst nicht denken wollen. Ich frage mich, ob ich zu weit vom rechten Pfad abgekommen bin.«
»Vom Pfad Gottes?«
»Vielleicht.
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