Süchtig
Vielleicht auch ganz allgemein. Überall diese falschen Götter. Wir glauben, wenn wir uns für die richtige Sache engagieren oder das richtige Hobby finden, werden wir glücklich. So einfach ist es aber nicht. Von der Religion habe ich immer Antworten erwartet. Jetzt habe ich die Antworten durch Fragen ersetzt. Ein Experiment nach dem anderen. Eine Versuchung nach der anderen. Ist das nicht einfach die Kehrseite der Medaille?«
Sie hatte versucht, für sich selbst eine praxisnähere Philosophie zu entwickeln. Für den Augenblick hatte sie sich vorgenommen, ihren Mut unter Beweis zu stellen, indem sie sich ganz allein einen Horrorfilm ansah. Einmal hatte sie es mit einer Gespenstergeschichte mit
Nicole Kidman versucht, aber solche Angst bekommen, dass sie die meiste Zeit in der Lobby verbrachte. Sich allein eine romantische Komödie anzusehen, zähle nicht als Liebe, meinte sie schließlich.
Sie hatte ein paar Beziehungen hinter sich, unter anderem eine kurze, aber leidenschaftliche Affäre mit Andy, aus der sich eine tiefe Freundschaft entwickelt hatte. Um das Potenzial einer Romanze zu beschreiben, griff sie zu einem Vergleich mit den LED-Anzeigen an ihrem Handy: Signalstärke und Batteriestatus. Wenn beide über achtzig Prozent lagen, standen die Chancen gut.
Dann fragte sie nach Annie. Ich erzählte ihr von unserer Beziehung. Als ich von dem Unfall auf See sprach, legte Erin mir kurz die Hand auf den Arm – eine Geste, die weder mütterlich noch zärtlich wirkte. Vielleicht suchte sie nur nach Halt. Sie wollte wissen, ob ich über Annie hinweg war.
Das war meine ganz persönliche Preisfrage. War ich in der Vergangenheit gefangen? Die Therapeutin, die ich nach Annies Tod aufgesucht hatte, sah unsere Beziehung in einem Kontext, den ich abwechselnd ablehnte und akzeptierte – das hing ganz von meiner Stimmung ab und von den Bierchen, die ich intus hatte. Louise Elpers meinte, Annie sei meine erste Erfahrung mit echter Intimität gewesen. Sie habe mich sozusagen geprägt, wie eine Gans ihr Küken. Ihre Fehler seien mir daher nie wirklich bewusst geworden, und deswegen idealisiere ich sie nun. Nach zwei Bier tat ich diese Theorie normalerweise als Psychoquatsch ab.
Ich erzählte Erin von meinen Beziehungsversuchen nach Annies Tod. Meist war es bei einem kurzen Flirt
geblieben. Am längsten hatte mein Verhältnis mit einer Anwältin gehalten, die ich auf einer Cocktailparty der Demokratischen Partei kennengelernt hatte. Eine hübsche Frau, ohne jeden Sinn für Humor.
»Sie sagte Dinge wie: ›Der Wein ist nicht so körperreich, wie ich mir das vorgestellt hatte‹.«
»Wer so redet, muss schon selbst ziemlich körperreich sein«, meinte Erin.
»Ich bin über Annies Tod hinweg«, verkündete ich abrupt und glaubte fast selbst daran. Ich bin einsam, aber ich will daran glauben, dass ich eines Tage mit jemand anderem dieselbe Vertrautheit, dieselbe Lebendigkeit erfahren kann wie mit ihr, meinte ich eigentlich.
Erin hinterfragte das nicht, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mir kein Wort abnahm. Dann wurde mir bewusst, dass ich möglicherweise meine eigenen Ängste auf sie projizierte. Vielleicht war ich mir nicht sicher, dass ich noch einmal eine Frau lieben konnte.
»Wissen Sie, was ich mich die ganze Zeit schon frage?«, sagte Erin. »Wieso waren Sie eigentlich an dem Tag im Café?«
Ich überlegte einen Augenblick und lächelte unwillkürlich. »Sie werden es nicht glauben: wegen meiner Vorhänge.«
Meine Eltern hatten mir ein Jahr zuvor einen Besuch abgestattet und ihrer Missbilligung im Hinblick auf den Zustand meiner Junggesellenwohnung deutlich Ausdruck verliehen. Ihrer Ansicht nach erforderte das Leben als Erwachsener eine gewisse Grundausstattung, wie zum Beispiel richtiges Geschirr und ordentliche Vorhänge. Das grüne Flanelllaken, das ich notdürftig
am Fenster befestigt hatte, entsprach in keiner Weise ihren Ansprüchen. Schließlich hatten sie mir einen Geschenkgutschein für Pottery Barn aufgedrängt. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich am Tag des Anschlags Basketball gespielt und war dann in eine Pottery-Barn-Filiale in der Nähe des Cafés gegangen, um Vorhänge auszusuchen.
»Ein Neuanfang?«, fragte Erin.
Merkwürdig, aber ich fühlte, wie mich die Traurigkeit überkam. Als die Frau mir die Botschaft auf den Tisch legte, hatte ich mich gefragt, ob damit mein neues Leben begann.
Erin und ich leerten gemeinsam auf der Couch eine Flasche Rotwein und tranken Brüderschaft.
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