Süchtig
Schließlich legte sie den Kopf zurück, schloss die Augen und war sofort eingeschlafen. Ihr Kopf sank zur Seite und berührte meine Schulter. Ihr Haar duftete schwach nach einer purpurfarbenen Blume, an deren Namen ich mich nicht erinnern konnte. Obwohl ich Annie immer noch nachtrauerte, war mir Erins Anziehungskraft nicht entgangen. Sie war eine schöne Frau und eine angenehme Gesprächspartnerin. Ich schloss ebenfalls die Augen und hoffte auf Schlaf, wurde jedoch von einem vertrauten Vibrieren in meiner Hosentasche gestört. Ein Anruf. Sanft löste ich mich von Erin, zog das Handy heraus und warf einen Blick auf die Nummer. Eine Adrenalinwelle rauschte durch meine Adern, und ich fragte mich, ob ich je wieder schlafen würde.
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Praxis Battat und Bard sagte die Anruferkennung. Das war Andy Goldsteins Neurologe, dem Leslie von mir erzählt hatte. Mittlerweile war es neun Uhr abends. Offenbar hatte er einen langen Arbeitstag hinter sich. Ich verhalf ihm zu einem frühen Feierabend, indem ich mein Telefon ausschaltete. Im Augenblick wollte ich nur noch schlafen, aber der Anruf hatte seine Wirkung getan.
Von allen Seiten stürmten drängende Fragen auf mich ein. Selbst nach Annies Tod hatte ich ein relativ bequemes Leben ohne große Anstrengungen geführt. Als Journalist ist man wie eine Stammzelle. Ich war ein noch nicht ausdifferenzierter Organismus, der auf ein Thema, einen Artikel oder eine kontroverse Debatte wartete, über die ich mich definieren konnte. Was war mein Lebenszweck?
Manchmal dachte ich über einen Ausspruch des Gründervaters John Adams nach, an dessen genauen Wortlaut ich mich nie erinnern konnte. »Ihr sollt Soldaten und Politiker sein, damit eure Kinder Anwälte, Ärzte und Kaufleute und eure Kindeskinder Dichter, Musiker und Künstler werden können«, oder etwas in der Art hatte er gesagt.
Die erste Generation schafft die Infrastruktur, die es späteren Generationen erlaubt, mit vollem Bauch Rock’n’ Roll zu komponieren und sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben. Die in gesicherten Verhältnissen aufgewachsenen Erben erkunden Neuland, das ihre Väter nie zu betreten gewagt hätten. Sie schreiben »Stairway to Heaven« oder medizinische Artikel. Nichts Weltbewegendes und jede Menge Zeit für Pausen, in denen man die eigene Befindlichkeit erforschen kann.
Erin wurde unruhig. Sie murmelte ein paar schläfrige Worte, gab mir einen Kuss auf die Wange und wünschte mir eine gute Nacht. Ich spürte eine pubertäre Angst, einen Nachhall der Enttäuschung, die den Heranwachsenden befällt, wenn das Mädchen, mit dem er verabredet war, ohne Kuss aus dem Auto steigen will. Eine erneute Adrenalinwelle verdrängte das Gefühl. Der Anschlag auf das Café hatte alte Wunden wieder aufgerissen. Es ließ mir keine Ruhe. Ich holte meinen Laptop hervor und fing an, durch meine Erinnerungen zu surfen. Dabei begann ich mit dem Santa Cruz Boardwalk, besser gesagt, mit der Website des Vergnügungsparks.
Wir hatten im April dort Crêpes gegessen, und eine Wahrsagerin hatte aus Annies Handfläche gelesen, dass Geld ins Haus stand. Für drei Dollar fünfzig konnte man nicht mehr verlangen.
Dann wechselte ich zur Homepage der Oper von San Francisco, wo wir während des ersten Akts so laut gekichert hatten, dass wir die Vorstellung vorzeitig verlassen mussten.
Wehmütig trieb ich durch den Cyberspace. Wie Perlen reihten sich die Erinnerungen aneinander, aus Minuten wurden Stunden. Bits und Bytes zeichneten das Bild unserer Beziehung nach. Für jeden Anlass gab es eine Website: den Lake Tahoe Inn, wo wir einen Samstagabend am Kamin Scrabble gespielt hatten, das Berkeley Bowl, wo wir Jimmy Buffett hörten und Cannabiskekse aßen, Squid Row, einen Fischmarkt, wo wir lernten, Schwertfisch in Kräuterkruste zuzubereiten. Wir waren so stolz auf unser Können, dass es jeden Monat mindestens einmal Schwertfisch nach bewährtem Rezept gab.
Squid Row. Eine der wenigen unangenehmen Erinnerungen. Dort hatten wir den Fisch gekauft, den wir gerade brieten, als Annies Vater ihr von dem Deal mit NotesMail erzählte und sie sich von mir trennen wollte.
Schließlich landete ich auf der Website von Kindle Investment Partners. Dort befand sich immer noch ein versteckter Link zu Annies Nachruf im Palo Alto Daily. Ich las ihn zum hundertsten Mal. Die Homepage trug Glenn Kindles Handschrift – ein Tribut an seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
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