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Süchtig

Titel: Süchtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Richtel
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konnte. Ich öffnete die Tür zu dem kleinen Wartezimmer, in dem sich normalerweise Samanthas Patienten mit der Lektüre von Yoga-Magazinen die Zeit vertrieben. Wenn Samantha darauf wartete, dass die
Behandlung ihre Wirkung entfaltete, saß sie auch selbst in dem orangefarbenen Polstersessel und meditierte.
    Ich war auf das Schlimmste gefasst. Ein weiterer Adrenalinschub rauschte durch meine Adern, als ich Samantha mit geschlossenen Augen in dem großen Sessel sah. Ihr Kopf hing zur Seite.
    »Samantha!«
    Sie rührte sich nicht.
    Ich trat auf sie zu, nahm ihr Handgelenk und tastete. Ihr Puls war kräftig.
    »Fünf Minuten, Bullseye«, lallte sie leise.
    Sie schien unter Drogen zu stehen, so wie ich bis vor wenigen Minuten. Am liebsten hätte ich sie wachgerüttelt, um sie zu fragen, was sie gesehen hatte, aber vermutlich würde ich nicht viel aus ihr herausbekommen. Besser, ich ließ sie schlafen. Ich legte meine Hand an ihre Wange. Dabei fiel mir der Schlüssel auf, der an einer Schnur um ihren Hals baumelte. So etwas hatte ich noch nie bei ihr gesehen. Ich nahm den Schlüssel in die Hand. Dem Firmenlogo nach gehörte er zu einem Ford.
    Ich ging zur Eingangstür der Praxis – ganze drei Schritte, größer war der Raum nicht. Der unbefestigte Parkplatz vor dem Gewerbegebäude war genauso leer wie bei meiner Ankunft – bis auf einen Ford Explorer, zu dem der Schlüssel in meiner Hand offenbar gehörte.
    Erst war ich nur neugierig, dann wurde ich wütend. Wer erlaubte sich diese Spielchen mit mir und warum?
    »Was zum Teufel ist hier los?«
    Die Antwort kam aus meiner Hose. Das geheimnisvolle Handy klingelte.

    Als ich das Gerät aufklappte, hatte ich das merkwürdige Gefühl, genau diesen Augenblick schon tausend Mal erlebt zu haben. Ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, und hielt mir das Handy ans Ohr.
    »Hallo«, meldete ich mich zögernd. »Hier ist Nat Idle.«
    »Turtle«, sagte meine ehemals verstorbene große Liebe. »Ich habe dich so vermisst.«

42
    Es war nicht meine erste Wiedervereinigung mit Annie. Oft hatte ich in meiner Vorstellung mit einer Tüte Sonnenblumenkerne auf einer Bank im Golden Gate Park gesessen. Ein Kern für mich, ein Kern für die Eichhörnchen. Zwei für mich, zwei für die Eichhörnchen.
    Ich bot ein Bild besinnlicher Pietät und Demut. Annie sollte aus dem Jenseits sehen können, dass ich die ruhige Gelassenheit eines Menschen besaß, der seine große Liebe verloren hatte.
    Aber sie war nicht im Jenseits. Sie war fünfzig Meter von mir entfernt und kam auf mich zu. Mit jedem Zentimeter wurde ihr Lächeln strahlender. Selbst als sich unsere Blicke begegneten, beschleunigte sie ihr Tempo nicht. Schließlich erhob ich mich, blieb aber stehen, um die Vorfreude voll auszukosten. Am Ende hielt sie es nicht mehr aus. Sie rannte auf mich zu und stürzte sich in meine Arme.
    »Das gibt es doch gar nicht«, flüsterte ich in ihr Haar.
    »Ich bin hier, Turtle«, antwortete sie. »Ich bin es wirklich.«
    Ich vergrub meinen Kopf in ihrem Haar. Dann lachte
sie. Wir küssten uns, während die Eichhörnchen Männchen machten und applaudierten.
    Tausendfach hatte ich mir diese Szene in den Monaten nach Annies Verschwinden ausgemalt. Meist war es eine Variation desselben Themas. Nur ein Bestandteil der Geschichte veränderte sich ständig: die Erklärung dafür, wie Annie zu mir zurückgekehrt war. Wie sie ihren Sturz in den Pazifik überlebt hatte.
    Mir fiel nie eine plausible Erklärung dafür ein. So beließ ich es bei vagen Fantasien: Sie hatte sich den Kopf angeschlagen und war von Delfinen davongetragen worden, oder sie war von den Matrosen eines ausländischen Frachtschiffs entführt worden und in den haiverseuchten Gewässern vor Neuseeland entkommen.
    Die Gründe für ihre Gegenwart waren verschwommen und blieben unwichtig. Aber den Augenblick unserer Begegnung, den hatte ich mir stets in allen Einzelheiten ausgemalt. Er war voller Freude und Gelächter. Als es wirklich geschah, war alles ganz anders.

43
    »Annie«, sagte ich und verstummte für einen Augenblick. »Bist du es wirklich?«
    »Bist du allein?«, fragte sie.
    Diese Stimme. Ich hätte diese Stimme in einem Windkanal erkannt, mit Ohrenstöpseln, während der Drummer von Nirvana auf sein Schlagzeug eindrosch.
    Ich sah mich auf dem Parkplatz um. Wollte sie wissen, ob sich jemand in meiner Nähe aufhielt? Zumindest war niemand zu sehen.
    Bevor ich antwortete, legte ich eine kleine Pause ein, während ich

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