Süchtig
meine Umgebung genauer betrachtete. War das wirklich wahr? Vielleicht war ich im Jenseits gelandet, und es sah aus wie ein Gewerbegebiet.
»Annie«, sagte ich.
»Ich bin es wirklich, Turtle.«
»Bin ich tot?«
Annie schluckte vernehmlich. »Nein, wir sind nicht tot.«
Ich sah zum Himmel auf.
»Das kann doch gar nicht sein.«
»Aber ja. Turtle, uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Annie, ich habe keine Ahnung, was hier läuft. Ich weiß nicht, ob ich je wieder Gelegenheit habe, mit dir
zu sprechen. Deswegen muss ich dir eines sagen: Ich habe alles an dir vermisst. Deine Hände, deinen Geruch, wenn du aus der Dusche kommst, und …« Ich überlegte kurz. »Das nehme ich zurück. Ich mag deinen Geruch und dein Aussehen immer und unter allen Umständen. Selbst wenn du dich nie wieder wäschst, kann nie jemand so gut riechen wie du.«
Sie lachte, aber es war ein schwaches, dünnes Lachen. Dennoch fühlte ich mein Herz erbeben.
»Nat, uns bleibt keine Zeit. Bist du allein?«
»Du musst mir sagen, was los ist. Wo bist du? Wie lange bist du schon … da draußen? Annie, hast du mir im Café das Leben gerettet?«
»Ich muss wissen, ob wir allein sind, Nat. Können wir offen sprechen?«
Ich spürte eine vage Vorahnung. Der Schweiß trat mir auf die Haut, und mir schwindelte. So klang Annie, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte.
»Ja«, sagte ich.
»Ich bin in Gefahr, Nat. Wir sind beide in Gefahr.«
Die Knie wurden mir weich.
»Hast du den Explorer gefunden?«
Ich sah von dem schwarzen Geländewagen zu dem Schlüssel in meiner Hand. Ja, ich hatte ihn gefunden.
»Annie – das reicht mir nicht. Erklär mir … wieso hast du dich in all den Jahren nie mit mir in Verbindung gesetzt?« Ich wartete die Antwort gar nicht ab. »Hast du im Koma gelegen?«
»Ich erkläre dir alles, wenn wir uns sehen. Auch, warum ich mich nicht melden konnte. Wir trinken Schoko-Milkshakes und träumen zusammen, und dann schlafe ich mit dem Kopf in deinem Schoß ein.«
Ich spürte, wie mir warm ums Herz wurde. Trotzdem schrie ich innerlich nach einer Erklärung. Mein Mund war jedoch so trocken, dass ich kaum sprechen konnte.
»Du musst morgen Nachmittag in Nevada sein«, sagte sie. »Im Handschuhfach findest du eine Karte. Nat, halte dich von den Flughäfen und der Polizei fern. Es ist zu gefährlich.«
Darauf war ich schon selbst gekommen. Immerhin hatten zwei Polizeibeamte noch vor wenigen Stunden versucht, mich mit Nadeln zu spicken. Das Handy wollte mir aus der schweißnassen Hand gleiten. Ich wischte sie trocken und wechselte Hand und Ohr.
»Wir kümmern uns um deine Freundin«, sagte Annie. »Wir beschützen sie.«
»Meine Freundin.«
»Erin«, sagte Annie. »Eine schöne Frau.«
Den Ton kannte ich von früher. Annie war eifersüchtig. Während unserer Beziehung hatte sie deswegen immer wieder völlig grundlos einen Streit vom Zaun gebrochen. In diesem Fall war ihr Verhalten besonders absurd, aber ich hatte keine Zeit, mich dagegen zu verwahren. Erst musste ich wissen, was mit der anderen Frau in meinem Leben war.
»Samantha«, sagte ich. »Was ist mit Sam los?«
Eine Pause, als hätte Annie die Hand über die Sprechmuschel gelegt.
»Sie kommt wieder in Ordnung«, sagte sie dann. »Ihr wird ein paar Stunden lang der Schädel dröhnen, das ist alles.« Dann wechselte sie übergangslos das Thema. »Ich finde es rührend, wie du dich um die Menschen um dich herum kümmerst.«
Das Kompliment war verschwendet, denn ich dachte noch darüber nach, was sie über Erin gesagt hatte. Wir kümmern uns um sie. Wir?
Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch meinen Körper.
Ich verlor den Halt. Meine Beine gaben unter mir nach, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Unerträgliche Kopfschmerzen peinigten mich.
»Mit mir stimmt etwas nicht, Annie. Ich weiß nicht, ob es an der Akupunktur liegt. Eigentlich fühle ich mich schon seit Tagen merkwürdig. Seit der Explosion.«
»Was meinst du damit?« Sie klang aufrichtig interessiert.
»Mein Kopf. Ich habe das Gefühl, mir zerspringt der Schädel.«
»Nat, reiß dich zusammen. Seit wann hast du das? Fühlst du dich desorientiert? Wird dir schlecht? Ich muss das wissen.«
»Das geht schon seit ein paar Tagen so. Ich glaube, es ist ein schwerer Fall von posttraumatischem Stress-Syndrom. Was kann es sonst sein?«
Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Verdammt. Lass mich einen Augenblick nachdenken.« Eine weitere Pause. »Kannst du dir Amphetamine
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