Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
sie die halbe Nacht vor sich hin und ihr Gekicher hallte über das Tal, und manche Bauern glaubten, ihre Ziegen hätten sich losgerissen und irrten umher. An einem Tag im Sommer bekam Echo wieder einmal mit, wie sich einige ihrer Freundinnen mit dem schönen Gott verabredeten. Wie immer wünschte sie allen Beteiligten ein schönes Schäferstündchen. Wenig später sah sie Juno. Die näherte sich dem Berg, auf dem Jupiter schon in seinem Element war. Echo hielt Juno auf. Sie fing ein Gespräch an und laberte und laberte, so wie manche Leute, mit denen wir es im Dezernat zu tun haben, und die Zeit verging, und Juno hörte neugierig zu. Echo kannte die besten Klatschgeschichten. Irgendwann aber fiel Juno wieder ein, weswegen sie den Weg durch den dornigen Wildwuchs überhaupt angetreten hatte, und sie verabschiedete sich von Echo, eher harsch. Echo kannte sämtliche Abkürzungen und rannte los, um die Göttin, falls es sein musste, ein zweites Mal aufzuhalten. Doch die Nymphen waren bereits verschwunden und Jupiter saß unter einem Apfelbaum und las in einem Buch. Echo wollte ihm gerade komplizenhaft zuwinken, da erschrak sie: Aus dem Gebüsch krabbelte eine junge Nymphe und steckte sich eine goldene Spange ins Haar. ›Hast du sie endlich gefunden!‹, rief Jupiter ihr zu und er wehrte sich nicht, als die Nymphe, die natürlich wie alle anderen in ihn verliebt war, ihn ein letztes Mal ausdauernd auf die Schulter küsste. Dann huschte sie davon, genau in Richtung Echo, der ein Schrecken in die Glieder fuhr. Hinter dem Apfelbaum, an dem Jupiter lehnte und las, war Juno aufgetaucht. Und Echo hatte keinen Zweifel daran, dass die Göttin die Nymphe bemerkt hatte. Dämliche, selbstgefällige Kuh!, dachte Echo, aber ihr Schicksal war besiegelt. Juno stellte sie zur Rede. Echo flunkerte ein wenig, mehr aus Gewohnheit und nicht, um die Göttin anzulügen. Doch die Göttin kannte keine Gnade. Sie war ausgetrickst worden und das durfte sie sich nicht gefallen lassen. So nahm sie der Nymphe die eigene Sprache weg und ließ die Zunge Echos nur noch vorgesprochene Worte sagen. Von diesem Tag an war Echo dazu verbannt zu wiederholen. Eine Wiederkäuerin des Windes zu sein, der fremde Stimmen mit sich brachte.«
Ich schwieg.
Sonja sah mich an. »Das wars?«
Ich sagte: »Eine dieser Stimmen gehörte einem schönen Jüngling, in den Echo sich sterblich verliebte. Doch er wollte nichts von ihr wissen. Er war zu sehr in sich selber verliebt. Auf diese Weise gedemütigt, verzehrte Echo sich immer mehr. Und am Ende löste sich ihr Körper auf. Zurück blieben nur noch Knochen. Und ihre Stimme. Ihre Knochen, heißt es, wurden zu Steinen, bloß ihre Stimme blieb bis heute in der Welt.«
Sonja setzte sich aufrecht hin, nach vorn gebeugt.
»Und dieser Schönling«, sagte sie, »wer war das?« Ich sagte: »Er war wirklich schön. Es war Narziss.«
»Und wie geht die Geschichte weiter?«
»Das wissen Sie doch«, sagte ich, »er verliebt sich in sein Spiegelbild und stirbt.«
Nach einer Weile sagte Sonja: »Hab ich schon erwähnt, dass Sie ein merkwürdiger Polizist sind?«
Nie zuvor hatte ich jemandem diese Geschichte erzählt. Oder eine ähnliche Geschichte.
»Woher kam das Echo in Ihnen?«, sagte sie. Ich sagte: »Von meiner Mutter.«
Sie sah mich nicht an. Sie fragte nichts. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss und fuhr los. Jemand hupte.
8
I m Treppenhaus roch es nach frisch gebackenem Kuchen. Auf einem Fenstersims stand ein blühendes Veilchen. Im dritten Stock wurde eine Tür geöffnet.
»Mein Name ist Tabor Süden«, sagte ich.
»Sonja Feyerabend.«
Die alte Frau sagte: »Bitt schön?«
Ich zeigte ihr meinen Ausweis. »Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Ich hab gern Gesellschaft«, sagte Grete Holch. Später saßen wir im Wohnzimmer, tranken Tomatensaft und warteten auf die Vögel.
Die eine Hälfte des Fensters war ein Stück geöffnet, die weiße Gardine vorgezogen. Auf das Fensterbrett hatte die alte Frau Sonnenblumenkerne und Brotkrumen gestreut.
»Dauert noch, die Vesper«, sagte sie. Sonja und ich saßen auf der Couch. Das Zimmer war klein. Der Schrank mit den Glastüren, der Tisch, auf dem eine Fernsehzeitung lag, der Fernseher auf dem Kästchen, die Stehlampe, der Lehnstuhl und die Couch hatten gerade Platz. Alles sah aus, als wäre es extra wegen uns gereinigt und ordentlich hingestellt worden.
Grete Holch war Ende siebzig, kleiner als ihre Tochter, dürr und bleich. Sie trug eine rote Bluse,
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