Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
ihn in meiner Gegenwart kennen gelernt, nämlich beim Hexentanz am Faschingsdienstag auf dem Viktualienmarkt. Max war da mit seinen Freunden, und sie haben uns einen Sekt spendiert, uns dreien. Und da ist Max zum ersten Mal auf der Bildfläche erschienen, das können Sie völlig glauben.«
Ich sagte: »Ich glaubs Ihnen.«
»Hoffentlich«, sagte sie. Wir schwiegen.
Fast eineinhalb Stunden waren vergangen. Ob wir eine öffentliche Suche nach Maximilian Grauke einleiten sollten, war mir immer noch nicht klar. Die Hinweise auf einen Suizid waren vage, allerdings nicht vage genug. Welche Tentakel der Vergangenheit hatten Grauke aus seinen Gewohnheiten gerissen?
Grete Holch hatte die Wohnungstür schon geschlossen, und wir waren auf dem Weg zur Treppe, da ging die Tür noch einmal auf. Mit dem Finger am Mund forderte die alte Frau uns auf leise zu sein und ihr zu folgen. Wir gingen zurück in die Wohnung. An der Wohnzimmertür mussten wir stehen bleiben. Frau Holch zeigte stumm zum Fenster. Auf dem Fensterbrett pickte eine Amsel die Krumen auf.
»Manchmal kommt der Gatte mit«, flüsterte Frau Holch.
Als wir aus dem Haus kamen, schlugen vom Kirchturm gegenüber die Glocken.
»Fahren wir noch zu Paula Trautwein, dann können wir die Sache erst mal abschließen«, sagte Sonja.
Es war neun Uhr abends. Ursprünglich hatte auch ich vorgehabt, zu Paula zu fahren. Jetzt nicht mehr.
»Ich muss telefonieren«, sagte ich.
Sie sagte: »Sie können mein Handy haben.«
»Nein.«
Wir gingen die Hiltenspergerstraße entlang bis zur Hohenzollernstraße. Vor der Realschule am Eck stand eine Telefonzelle. Gestenreich telefonierte ein junger Mann.
»Das ist doch albern, hier zu warten«, sagte Sonja. Ich sagte nichts.
Sie sagte: »Ich hör schon nicht zu!«
Der junge Mann schlug gegen die Scheibe, brüllte auf Griechisch und drehte uns, als er uns bemerkte, den Rücken zu.
Nach zwei Minuten hielt mir Sonja ihr Handy hin.
»Sie kriegen schon keinen Kopftumor!«, sagte sie.
»Wieso fahren Sie nicht nach Hause?«, sagte ich. »Der Tag ist um.«
»Wir machen die Befragungen fertig.«
»Wo bist du?«, sagte ich ins Telefon. Sonja entfernte sich.
Sie ging über die Straße und betrachtete zwecklos das Schaufenster einer chemischen Reinigung. »Hast du was getrunken?«
»Wollt ich grade«, sagte Martin am Telefon. Er war zu Hause.
»Lass es und komm ins Lehel!«, sagte ich. Ich gab ihm die Adresse.
Als Sonja auf mich zukam, hoffte ich, sie würde die Idee mit den gefärbten Wimpern und Augenbrauen vergessen.
Gleichzeitig fiel mir ein, dass ich Ute wieder nicht angerufen hatte.
Später. Jetzt hatte ich die Absicht, jemanden zu besuchen. Jemanden, der damit garantiert nicht rechnete. Was ich mit unserem Überraschungsauftritt erreichen wollte, war mir allerdings ein Rätsel – wie die Binnenwelt der Familie Grauke.
9
D ann standen wir vor dem Haus gegenüber der Trambahnhaltestelle und warteten auf Martin Heuer.
»So weit ist es doch nicht von Neuhausen bis hierher!«, sagte Sonja.
Ich sagte: »Er hat eine andere Fahrweise als Sie.«
»Wie fahre ich denn?«
»Eher rasant.«
»Haben Sie sich gefürchtet?«, sagte sie.
»Nein.«
Ein Zeitungsverkäufer radelte vorüber, und Sonja hielt ihn auf. Sie kaufte eine Zeitung vom nächsten Tag und nahm den Anzeigenteil heraus. Den Rest gab sie mir.
»Am Mittwoch stehen Wohnungen drin«, sagte sie. Ich lehnte an der Hauswand und blätterte im Lokalteil. Fast hätte ich das Foto übersehen. Ich war völlig überrascht. Ich zeigte Sonja den Artikel.
»Hätte er uns das nicht mitteilen müssen?«, fragte sie. Hatte er nicht getan. Auf der ersten Seite stand ein Bericht über Vermisstenfälle der jüngsten Zeit. Solche Geschichten erscheinen alle zwei Jahre, meist im Sommerloch. Dazu Fotos der Gesuchten. Eines der Fotos zeigte Maximilian Grauke. Ohne uns ein Wort zu sagen, hatte Thon die Öffentlichkeit eingeschaltet.
»Geben Sie mir noch mal Ihr Handy!«, sagte ich. Sie sagte: »Ein Bitte wäre nett.«
»Den Film kenn ich«, sagte ich. »Bitte.«
Zuerst rief ich im Dezernat an und ließ mir Thons Privatnummer geben.
»Wieso informierst du uns nicht?«, sagte ich zu ihm.
»Guten Abend, Tabor«, sagte er. »Die Reporterin war im Haus und da hatten wir die Idee, den aktuellen Fall mit einzubauen. Nach deinen Berichten besteht die Gefahr, dass der Mann sich was antut. Was ist los?«
»Ich will vorher gefragt werden«, sagte ich.
»Wie redest du denn mit mir?«, sagte er.
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