Süden und das grüne Haar des Todes
Feierabend?«
»Mit Ypsilon«, sagte Sonja.
»Feyerabend.« Maria Seberg war eine zierliche Frau von siebzig Jahren mit einem fast faltenlosen Gesicht und dünnen graubraunen Haaren, die die Hälfte ihrer Stirn bedeckten und über ihren ziemlich großen Ohren etwas abstanden. Beim Sprechen zuckte sie manchmal mit dem Kopf.
»Wie lange sind Sie denn verheiratet?«, fragte Sonja .
»Dieses Jahr werden es genau fünfundvierzig Jahr.« Und nach einer Pause, in der sie die Hände vor dem Bauch kreuzte, mit den Innenseiten nach oben: »Und die fünfzig schaffen wir auch noch. Das wird schon wieder mit ihm.«
Ob ihr Mann mit ihr über das Foto in der Zeitung gesprochen habe?
»Nein«, sagte sie .
Ich sah sie lange an .
»Was ist?«, sagte sie. »Glauben Sie mir nicht?«
Ich sagte: »Die Emmi Bregenz glaubt, dass die Frau in der Zeitung ihre Schwester ist.«
Bevor sie etwas erwiderte, zuckte ihr Kopf. »Die ist doch tot. Und die hat doch auch nicht Babette geheißen.«
»Nein«, sagte ich. Und ich fragte sie nicht, wieso sie sich an den Namen erinnerte, obwohl sie den Artikel angeblich kaum beachtet hatte. »Haben Sie als Kind mit den beiden Schwestern gespielt?«
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Maria Seberg und blickte an mir vorbei zur Tür mit der Milchglasscheibe. Auch ich hatte ein leises Knacken gehört, als habe jemand behutsam eine Klinke gedrückt.
»Wir wollen Sie nicht weiter stören«, sagte ich. »Frau Bregenz behauptet, ihre Schwester sei eine Denunziantin gewesen. Können Sie sich das vorstellen?«
»Das ist doch Unsinn!« Maria Seberg hob die Stimme und fuchtelte mit den Händen. »Wir waren alle Kinder, wieso sagt die so was? Die hat doch keine Ahnung von nichts! Sie hat ihre Schwester immer schlecht gemacht! Damals schon! Die soll bloß still sein! So was sagt man nicht! Nach der langen Zeit! Richten Sie ihr aus, sie soll bloß ihren Mund halten! Die Ruth war keine Denunziantin! Was weiß denn die dumme Emmi? Was weiß die denn?«
Und was wusste Maria Seberg? Und warum sprach sie nicht darüber?
»Es ist möglich, dass wir noch einmal vorbeikommen«, sagte ich.
»Das lassen Sie besser«, sagte Maria Seberg. »Hier ist nichts für Sie zu holen.«
8
W ie nimmt man eine siebzigjährige Frau fest, deren Tatwaffe die alltäglichste der Welt ist? Und die aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Fall nur eine Randfigur darstellte, nicht unwichtig als Lieferantin von Rankwerk, doch ohne Einfluss auf Verlauf und Aufklärung? Du Depp!, dachte ich plötzlich an diesem Donnerstagnachmittag, an dem ich darauf wartete, dass die Kollegen von der Bereitschaftspolizei die fünfzehnjährige renitente Tanja Vogelsang ins Dezernat brachten, nachdem sie ihnen zweimal entwischt war.
Du Depp! Wie verblödet musste ich sein, um mich mit Hierarchien und Wertungen abzugeben, anstatt das Einzige zu tun, was bei dieser Vermissung Licht versprach: jede Person, egal, wie geringfügig sie beteiligt sein mochte, einer anderen gegenüberzustellen und abzuwarten. Zu schauen. Zu horchen. Unsichtbar zu werden. Natürlich würde diese Vorgehensweise jeder dienstlichen Vorschrift widersprechen, und wenn Thon davon erfuhr, würde er die Vernehmung sofort abbrechen und Erklärungen von mir verlangen, die ich – wie so oft in meiner Zeit als Hauptkommissar – auf ein Wort reduzieren müsste: Intuition.
»Das ist interessant«, sagte Thon und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. »Und zu welchem Ergebnis ist dein Gespür schon gekommen?«
Ohne anzuklopfen hatte er die Tür des kleinen Raumes im zweiten Stock geöffnet, wo wir gewöhnlich die Zeugenaussagen aufnahmen, da uns im Dezernat kein gesondertes Vernehmungszimmer zur Verfügung stand .
Eine Erweiterung unserer Dienststelle scheiterte seit jeher am fehlenden Geld. Und den unaufhörlichen Sparmaßnahmen im Innenministerium fielen die Schallisolierung der Fenster zur lärmintensiven Bayerstraße genauso zum Opfer wie die Ausstattung sämtlicher Büros mit moderner Computertechnik oder der Ankauf halbwegs neuer Dienstfahrzeuge.
»Sie sind sich darüber einig«, sagte ich, »dass Babette Halmar unschlafbar war. Oder ist.«
»Unschlagbar?«
»Unschlafbar«, sagte ich. »Den Ausdruck hat Verona benutzt. Die alte Frau kann nicht schlafen. Jede Nacht schläft sie höchstens zwei bis drei Stunden, dann liest sie oder schaut Fernsehen. Oder döst vor sich hin, wie der Hausmeister behauptet.«
Nachdem ich für mich geklärt hatte, wie ich weiter vorgehen
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