Süden und das grüne Haar des Todes
sie Sonja oder mich ansprach, hielt sie ihren Blick von uns fern .
»Angeblich haben sie Flugblätter verteilt und Pamphlete unterschrieben, wir haben nie was Genaues erfahren .
Aber die Familie hat zu ihnen gehalten, sie haben das unter sich ausgemacht. Unten im Keller gab es diese abgeriegelten Abteile, da ging niemand mehr rein seit dem Ersten Weltkrieg. Alles dreckig und feucht, und Ratten waren da, Viehzeug, Kröten, wenn ich mich richtig entsinne, sogar Frösche. Niemand ist da Hintergegangen .
Dort hat der Herr Rosbaum seine Schwester und seinen Schwager versteckt. Zwei Jahre, glaub ich. Nicht? Zwei Jahre. Manche wussten davon. Meine Mutter. Sie hat zu uns gesagt, zu Ruth und mir, wenn wir jemandem davon erzählen, sperrt sie uns einen Monat in den Keller, im Dunkeln, und wir bekommen nur Wasser und trockenes Brot, eine Scheibe am Tag, sonst nichts. Ich hatte solche Angst. Von mir hat niemand was erfahren. Und der arme kleine Daniel. Der arme kleine Daniel. Er hat Ruth das Versteck gezeigt. Weil sie ihn bezirzt hat. Weil sie ihm wahrscheinlich ein Bussi gegeben hat. Ihre Neugier war schon böse. Und dann hat sie dem Schmittke davon erzählt, weil sie eine bessere Note wollte. Das weiß ich noch wie heute. Er hat ihr eine Drei gegeben und sie wollt eine Zwei. In Deutsch. Sie hat Ruhm ohne h geschrieben .
›Zum Rum des Deutschen Vaterlands.‹ Alle haben gelacht. Ich auch. Und zur Strafe hat er mich nach dem Unterricht dabehalten, und ich musste den Rock hochziehen, und dann hat er mir zwanzig Schläge auf den Hintern gegeben. Ich hab nicht geschrien. Und meiner Mutter hab ich nichts davon gesagt. Obwohl sie es bestimmt gewusst hat. Ruth hat gepetzt. Und sie hat dem Schmittke gesagt, wenn er ihr nicht nur eine Zwei, sondern eine Eins gibt, weil sie hätt sich nämlich bloß verschrieben, dann wird sie ihm beweisen, dass sie die ganze Zeit an den Ruhm des deutschen Vaterlands denkt. Ja. Ja. Ja .
Und dann hat sie ihm erzählt, was sie im Keller der Familie Rosbaum gesehen hat. Die Matratzen und die Gesichter im Dunkeln. 1942 war das. Im Winter 1942, im Dezember, glaub ich. Nicht? In der Adventszeit. Am nächsten Tag waren alle weg, der Herr Rosbaum, die Frau Rosbaum, der Onkel, die Tante und der kleine sanfte Daniel. Und ich hab Ruth gefragt, ob sie glücklich ist, und da hat sie mich an den Haaren gezogen und mich in den Schnee geworfen und dann wieder an den Haaren gezogen und mich angebrüllt, wenn ich nicht nett zu ihr bin, dann sagt sie dem Schmittke, dass ich auch davon gewusst hab, aber bloß zu feige bin, es zuzugeben. Und dann würd er mich erst grün und blau schlagen, und dann käm ich auch weg. Das hat sie gesagt.«
Sie keuchte mit offenem Mund, und ihr Bauch hob und senkte sich ununterbrochen und schnell .
»Dann kommst du weg, hat sie gesagt. Dann kommst du weg zur Strafe. Da wollt ich, dass sie stirbt. Dass was vom Himmel fällt genau auf sie drauf.«
Emmi Bregenz holte das zusammengeknüllte Taschentuch aus der Sesselritze und drückte es auf ihre Augen, erst lange auf das linke, dann lange auf das rechte, dann stopfte sie das Tuch wieder neben das Kissen .
»Als Ruth nicht zurückgekommen ist von den Hufschmieds, wollt ich sehen, ob meine Mutter weint. Hat sie nicht getan. Also hab ich auch nicht geweint. Und wenn mich jemand gefragt hat, wies mir geht nach dem tragischen Ereignis, hab ich geantwortet, ich bin gar nicht traurig, meine Schwester ist bloß vom Schlafgott entführt worden, und der bringt sie wieder eines Tages, eines Tages bringt der Schlafgott sie wieder zurück. Nicht? Hab ich dir auch erzählt, Max. Hab ich meinem Mann auch erzählt, Herr Kommissar, Frau Kommissarin. Später hab ich ihm schon die Wahrheit gesagt. Und die Frau in der Zeitung ist nicht meine Schwester Ruth. Meine Schwester ist tot. Ich bin von dem Nazi Schmittke bestraft worden und sie vom lieben Gott.«
Dann erhob sich Emmi Bregenz. Und als sie sich uns zuwandte, machte sie mit dem rechten Daumen ein Kreuzzeichen auf der Stirn und auf den zusammengekniffenen Lippen und über dem Herzen. Sie wischte sich mit der Hand über den Mund und sagte: »Jetzt brauch ich einen Schnaps.«
7
R outine ist ein Hauptwort, und wir schrieben es groß. Was wir über Babette Halmar – sofern es sich bei ihr um Ruth Kron handelte – erfahren hatten, stürzte uns in eine solche Verwirrung, dass wir die nächsten drei Tage mit nichts als stoischer Faktenrecherche verbrachen. Da Martin sich wegen einer schweren
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