Süden und das grüne Haar des Todes
wollte, nahm ich von den uniformierten Kollegen Tanja Vogelsang in Empfang, die mich eine Weile als Gestaponazi beschimpfte, um mir schließlich mit einem Rechtsanwalt zu drohen, den ihr Vater gut kenne und der schon mehrere Prozesse gegen übergriffige Polizeibeamte geführt habe.
Ich sagte: »Ist dir das nicht peinlich, erst die rebellische Kämpferin gegen den Unrechtsstaat zu geben und sich dann hinter dem Rücken des Papas zu verkriechen?«
»Hä?«, raunzte sie und kramte aus ihrer Jeansjacke eine Packung Zigaretten hervor. Zu der Jacke trug sie hellblaue Jeans, die mich an die ihrer Mutter erinnerten, und ein Jeanshemd, das ihr deutlich zu groß war, dazu braune Wildlederstiefel, an denen ich die Sporen vermisste. Wäre das Mädchen nur eine pubertierende Alltagsschauspielerin gewesen, die mit deftigen Sprüchen durch die Gegend zog und sich gelegentlich mit Jungen prügelte, hätte ich ihre selbstgefällige Art nicht weiter beachtet und mich auf ihre Aussagen zur Vermissung konzentriert. Aber Tanja war eine jugendliche Straftäterin, die wegen schwerer Körperverletzung und räuberischer Erpressung in mindestens fünf Fällen bereits ein Jahr unter Arrest gestellt und ein weiteres halbes Jahr zur Arbeit in einem Behindertenwohnheim verurteilt worden war. Einmal in der Woche musste sie zur psychologischen Betreuung, einmal im Monat in Begleitung ihrer Mutter.
Ihre neuerliche Flucht vor der Polizei passte zwar ins Bild, nicht aber ihr Anruf im Dezernat. Noch hatte ich nicht herausgefunden, was sie dazu bewogen haben mochte, und ich fragte sie auch nicht danach. Ich wartete ab, was zwischen ihr und Konstantin Gabelsberger passierte, den ich nach Tanjas Eintreffen angerufen und hergebeten hatte. Sowohl der ehemalige Hausmeister als auch die Schülerin reagierten sofort mit allergischen Blicken aufeinander.
»Unschlafbar«, wiederholte Thon. »Was versprichst du dir von dieser absurden Maßnahme?« Er zündete sich einen Zigarillo an, blies den Rauch vor sich hin und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Trotz seines unangekündigten Auftritts und seiner harschen Aufforderung, ihm in sein Büro zu folgen, wirkte er weniger verärgert, als ich erwartet hatte. Wie ich bald erfahren sollte, beschäftigte ihn etwas anderes mehr als das Verschwinden der Ismaningerin.
Im Zimmer ein Stock über Thons Büro passte inzwischen Freya Epp auf die beiden Zeugen auf .
»Deswegen liest ihr Gabelsberger Märchen vor«, sagte ich. »Manchmal auch Artikel aus der Zeitung.«
»Das ist alles, was er macht?« Thon stippte die abgebrannte Spitze des Zigarillos in den Aschenbecher und dachte offenbar angestrengt über etwas nach. Er sah mich nicht an, und ich hatte den Eindruck, er wich meinem Blick aus .
»Er hat einen Schlüssel zu ihrem Haus«, sagte ich. »Wenn ich mit der Befragung fertig bin, begleite ich ihn dorthin . Ich will endlich wissen, ob die beiden Frauen ein und dieselbe Person sind.«
Inzwischen lag uns auch eine Kopie der Geburtsurkunde von Ruth Kron vor, die wir vom Standesamt, bei dem auch Emmi Bregenz registriert war, angefordert hatten .
Eine Sterbeurkunde existierte nicht. Das Mädchen Ruth war wie Hunderttausende von Kriegsopfern für verschollen erklärt worden.
»Hier ziehts rein«, sagte Volker Thon und nickte mit gerunzelter Stirn zum Fenster hin.
Ich drehte den Kopf. Dann schwiegen wir .
»Wenn die Medien die Geschichte mitkriegen, haben wir was zu tun«, sagte Thon. Er nestelte an seinem Halstuch, drehte den Zigarillo zwischen den Fingern, ließ ihn dann am Aschenbecherrand liegen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an, wie er mit gesenktem Kopf vor mir saß, ungewohnt reglos, auf eine Art verzagt, die ich nicht hätte erklären können. Sein blaues Leinensakko kam mir heute zerknittert und unförmig vor.
»Wie schon am Montag eine Frage an deine Intuition«, sagte er, scheinbar vertieft in die aufgeschlagene Halmar-Akte vor sich. »Sind die beiden Frauen identisch?«
»Ich halte es für wahrscheinlich.«
»Warum?«
»Die Schwester hat sie wiedererkannt«, sagte ich. »Verbindungen zwischen Personen, die sich von früher kennen. Kleine Lügen, große Lügen. Alle machen uns etwas vor.«
»Das sind wir gewohnt«, sagte Thon .
»Ja«, sagte ich.
Er kratzte die Glut ab und legte den Zigarillo neben den Aschenbecher. Ruckartig hob er den Kopf und sah mich mit einem Ausdruck angespannter Entschlossenheit an, bevor er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte.
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