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Süden und das grüne Haar des Todes

Süden und das grüne Haar des Todes

Titel: Süden und das grüne Haar des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Pension und die Adresse.
    »Die Tulbeckstraße liegt im Westend«, sagte Sonja. »Dort, wo dieses Mädchen die Frau gesehen haben will. Aber wieso hat der Wirt die Frau in der Zeitung nicht wiedererkannt? Oder einer seiner Gäste?«
    »Vielleicht liest dort niemand Zeitung«, sagte ich .
    Sonja reagierte nicht auf die Bemerkung. Wenig später erfuhr ich, dass in der Pension natürlich eine Zeitung auslag. Nur keine deutsche, sondern eine türkische.
     
    Dann fanden wir das Buch. Es lag auf einer roten, abgegriffenen Bibel, deren Seiten vergilbt und teilweise eingerissen waren, in einem Schränkchen neben dem Bett. Es war ein einfaches Taschenbuch, dessen weißes Cover einen Mann in gelben Hosen und einem blauen Schlafrock zeigte, der in einem Koffer über eine orientalisch anmutende Gegend flog. Aus dieser Sammlung von Märchen hatte Konstantin Gabelsberger seit mehr als zehn Jahren vorgelesen.
    »Sie hat es aus einem Kaufhaus«, sagte er und schaute sich, schon zum zweiten Mal, im Schlafzimmer um .
    »Sie waren noch nie hier drin«, sagte ich.
    »Nein«, sagte er. »Sie setzt sich immer im Wohnzimmer auf die Couch, legt ein Kissen auf den niedrigen Glastisch und ihre Beine darauf und hört zu. Zwei Stunden. Immer. Danach reden wir noch ein bisschen, und dann geh ich.«
    »Warum, glauben Sie, hat sie Ihre Heiratsanträge abgelehnt?« Ebenso wie ich wagte auch Sonja nicht, sich aufs Bett oder in den Sessel zu setzen .
    »Das macht jetzt nichts mehr«, sagte Gabelsberger und stellte sich in den Türrahmen, als dürfe er das Zimmer nicht ohne Babettes Erlaubnis betreten .
    »Sie hat nie geheiratet«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Gabelsberger. »Sie ist allein geblieben. Wie ich. Keine Familie. Meine Eltern sind auch schon lang gestorben. Und mein Bruder hat sich nach Kanada abgesetzt, von dem hab ich seit dreißig Jahren nichts gehört .
    Es geht auch so. Sind Sie verheiratet? Entschuldigung, das geht mich gar nichts an.«
    »Ich bin nicht verheiratet«, sagte ich .
    Wie erwartet, ging Sonja nicht auf die Frage ein. Sie roch an den bodenlangen Vorhängen mit den Rosenmotiven und den Stores. Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich zu Gabelsberger um. »Hat Frau Halmar eine Putzfrau?«
    Überrascht von der direkten Frage räusperte er sich .
    »Putzfrau? Nein, sie macht alles selber. Sie lässt niemand in die Wohnung. Nur mich. Mich schon.«
    »Und Verona Nickel«, sagte ich.
    »Nur bis in den Flur!« Mahnend hob Gabelsberger die Hand. »Nicht weiter. Nicht mal bis in die Küche, wo die Sachen ja hinmüssen. Das weiß ich. Ich bin der einzige Mensch, der bis in ihr Wohnzimmer vordringen darf.«
    »Weil Sie ihr das Leben gerettet haben«, sagte ich .
    »Woher wissen Sie das?«
    »Sie haben es mir erzählt, als Sie das erste Mal ins Dezernat kamen.«
    »Stimmt!«, sagte er und senkte den Kopf .
    Nach einem Schweigen sagte Sonja: »Keine Notizbücher, keine persönlichen Aufzeichnungen, eine sauber geputzte Wohnung. Abgesehen von den Tintenklecksen auf dem Tischtuch im Wohnzimmer.«
    »Merkwürdig«, sagte ich. »Warum hat sie das Tischtuch nicht ausgewechselt? Sonst sind nirgendwo Flecken zu sehen.«
    »Die waren das letzte Mal noch nicht«, sagte Gabelsberger.
    »Bitte?«, sagte Sonja. »Wann waren Sie das letzte Mal hier?«
    »Am ersten Samstag im März«, sagte er sofort .
    »Vielleicht haben Sie die Flecken nicht bemerkt«, sagte ich.
    »Ich sitz immer neben dem Tisch! Ich hätt die gesehen! Die sind doch groß! Die waren da nicht. Sie hat halt was geschrieben.«
    »Schreibt sie manchmal etwas?«, sagte ich .
    »Nicht, wenn ich da bin.«
    »Einen Füllfederhalter oder ein anderes Schreibgerät, bei dem Patronen verwendet werden, hab ich nicht entdeckt«, sagte Sonja. »Nur Kugelschreiber, massenhaft Kugelschreiber.«
    »Sie kauft immer welche«, sagte Gabelsberger. Die Worte kamen ihm nur noch mühselig über die Lippen. »Sie sammelt so Kleinzeug, das sehen Sie ja, die Figuren, die Puppen, die Viecher, sieht ja hübsch aus. Steht aber bloß rum. Überall stehts rum. Ich glaub, ich muss jetzt nach Haus, ich krieg eine Erkältung von dem Regen.«
    »Einen Moment«, sagte ich. In den vergangenen fünf Minuten hatte ich nebenher in dem Buch geblättert. »›In der ganzen Welt gibt es niemand, der so viele Geschichten weiß wie der Schlafgott‹«, las ich. »›Nun wollen wir hören, wie der Schlafgott eine ganze Woche lang jeden Abend zu einem kleinen Knaben, der Hjalmar hieß, kam und was er ihm erzählte. Es sind

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