Süden und das heimliche Leben
Beine von sich gestreckt.
Er dachte an seine Chefin Edith Liebergesell, die ihn so besser nicht sehen sollte, und versank minutenlang in Erinnerungen an die Zeit, als er mit Martin Heuer in Schwabing gewohnt und Dienst als Streifenpolizist geschoben hatte. Damals war er zwanzig Jahre alt, die Szenekneipen aus den Sechzigern existierten noch, und sein uniformiertes Auftreten quittierten die meisten jungen Leute, denen er begegnete, mit Hohn und Spott. Ohne seine grüne und beige Verkleidung jedoch gehörte Süden in Lokalen wie dem Atzinger oder Charivari genauso dazu wie jeder gewöhnliche Student oder Faststudent oder Langzeitstudent.
Weder er noch Martin hatten trotz ihres Abiturs eine Universität besucht. Alles, was sie wollten, war, ihr Heimatdorf Taging so schnell wie möglich zu verlassen und irgendeine Ausbildung zu beginnen, damit sie sich eine Wohnung in München leisten konnten. Es war Martins Idee gewesen, zur Polizei zu gehen, und Südens Idee, in den Gehobenen Dienst zu wechseln, wo sie keine Uniformen tragen mussten. Im »Adria« an der Ecke Franz-Joseph- und Leopoldstraße tüftelten sie oft bis drei Uhr früh an einer gewissen Zukunftshaftigkeit, der sie beide gewachsen wären. Und eine Weile ging alles gut.
Für ihre Teamarbeit in der Mordkommission ernteten sie regelmäßig Lob, und später in der Vermisstenstelle entwickelte Süden seine wahren Fähigkeiten als Ermittler. Das Verschwinden seines besten Freundes in den Hinterzimmern der Nächte hielt er lange Zeit für ein Spiel, einen Spleen oder den Versuch, ein zweites, wildes Leben zu führen, fern jeglicher Dienstbeflissenheit. Doch Martin spielte nicht. Und als Süden ihn ans Tageslicht zurückholen wollte, griff er zu armseligen Maßnahmen, indem er Martin in seiner Wohnung einsperrte oder ihn während einer Vernehmung schüttelte und auf den Boden warf wie in der Kinderzeit, oder indem er ihn beschwor, einen Psychologen aufzusuchen.
Martin hauste in einem Kokon aus Abschied, den er schließlich mit einer Kugel aus seiner Dienstwaffe sprengte.
Nach fast einer Stunde unter der drückenden Sonne schreckte Süden aus dem Schlaf, schweißüberströmt, mit ruppig schlagendem Herzen. Hastig stopfte er seine Socken in die Jackentasche, schlüpfte in die Schuhe, warf die Lederjacke über die Schulter und flüchtete in den Schatten der Lindenbäume unterhalb des Hügels. Das Klingeln seines Handys ließ ihn zusammenzucken.
»Süden.«
»Paula Senner. Hab ich Sie aufgeweckt?«
»Nein.«
»Sind Sie gerannt? Sie keuchen so. Ich wollte Ihnen sagen, ich kann heut schon um sechs gehen, wir können uns früher treffen, falls Ihnen das passt.«
»Passt sehr gut. Wie verabredet, im Biergarten des Torbräus.«
»Das Lokal heißt nicht Torbräu, es heißt Wirtshaus am Sendlinger Tor, der Torbräu ist am Isartor.«
»Dann bin ich der Isartor«, sagte Süden.
»Bitte?«
»Halb sieben?«
»Einverstanden. Haben Sie schon eine Idee, wo meine Schwester sein könnte?«
»Sie haben mir etwas verschwiegen«, sagte Süden.
»Sicher nicht.«
»Sie haben vergessen, mir etwas Bestimmtes zu erzählen.«
»Was denn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sind Sie betrunken?«
Süden sagte: »Haben Sie Ihrer Schwester Nachhilfeunterricht gegeben? Hat jemand sich um Ilkas Allgemeinbildung gekümmert?«
Am anderen Ende blieb es still. Im Hintergrund hörte Süden Stimmen von Frauen, das Hupen eines Autos. Dann wurden die Straßengeräusche lauter. Anscheinend war Paula vor die Tür der Boutique gegangen. »Ich verstehe Ihre Fragen nicht«, sagte sie. »Meine Schwester musste meiner Mutter im Geschäft helfen, das wissen Sie, und sie hatte ein Talent zum Reparieren von Fahrrädern, sie war handwerklich geschickt, ganz anders als ich. Ich weiß nicht, ob sie nebenher etwas aus Büchern gelernt hat, woher soll ich das wissen?«
»Sie lebten in ihrer Nähe.«
»Ich hatte genug mit meinem eigenen Stoff zu tun, ich habe mich schwergetan im Gymnasium. Glauben Sie, ich verheimliche Ihnen etwas?«
»Vielleicht verheimlichen Sie sich selbst etwas«, sagte Süden.
Wieder Stille, dann sagte Paula: »Sie meinen, ich hätte mich mehr um Ilka sorgen sollen. Hätte sie öfter mal von unserer Mutter fernhalten sollen. Hätte öfter mit ihr lesen und schreiben üben müssen. Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber mit den Bürosachen hatte Ilka sowieso nichts zu tun, ich auch nicht, ich war ja in der Schule. Fürs Büro war die Mutter zuständig, niemand sonst, sie schrieb die
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