Süden und das heimliche Leben
heute anthrazitfarbenen Hosenanzugs. Dann kam sie um den Schreibtisch herum, blieb einen Moment vor Süden stehen und sah ihm in die Augen, sagte aber nichts. Dass er sie manchmal verstohlen beobachtete, hatte sie längst bemerkt. Ihre Blicke dagegen blieben für ihn unsichtbar.
Er wartete, bis sie den Rollwagen mit den Getränken erreicht hatte. »Ich kenne eine Kommissarin«, sagte er. »Sie hat vielleicht einen Schlüssel.«
»Die Schwester hat keinen?« Edith Liebergesell schenkte Rotwein in zwei kleine Gläser.
»Vermutlich nicht.«
»Weil die beiden Frauen sich eh nichts zu sagen haben.« Sie ging zu ihm und reichte ihm ein Glas. »Aus dem Friaul, zum Wohl, Süden.«
»Möge es nützen.«
Sie tranken, taten so, als würden sie über den Jahrgang der Rebe nachdenken, und leerten ihre Gläser. Natürlich war das erste Glas nur der Vorläufer des zweiten. »Ich bin unten im Lokal mit ihr verabredet«, sagte Süden.
»Mit der Schwester?« Diesmal füllte die Detektivin die Gläser weniger rücksichtsvoll. »Danke übrigens, dass du gestern gleich mit den Befragungen begonnen hast. Tut mir leid wegen der Auswüchse.«
»Sie haben tausend Euro für ihre Bedienung gesammelt.«
»So einen Fall hatten wir noch nie.«
Anschließend standen sie sich auf dem blaugrauen Teppich noch eine Weile gegenüber. Schweigend tranken sie aus und sahen zwischendurch zu den großen Fenstern, durch die das Abendlicht hereinfiel. Das Büro befand sich im fünften Stock eines Hauses aus dem Jahr 1913 , oberhalb des Sendlinger-Tor-Platzes, an dem mehrere Trambahnlinien kreuzten und Straßen in alle vier Himmelsrichtungen abzweigten.
»Wir sollten mal wieder zusammen essen gehen«, sagte Edith Liebergesell.
»Unbedingt.«
Süden dachte an das letzte Mal.
Das letzte Mal wäre beinah das letzte Mal gewesen. Dann hatten sie doch noch die Kurve gekriegt, er in das eine, sie in das andere Taxi, bevor sie mit ihrer öffentlichen Kussorgie, begleitet von FKK eskem Petting, ihre gemeinsame berufliche Zukunft vermutlich frühzeitig in den Sand gesetzt hätten. Seither bewältigten sie ihre Nähe zungenlos und gezügelt.
»Ich lass Sie dann mit meinem besten Mann allein.«
Edith Liebergesell gab Paula Senner die Hand, winkte Süden eigenwillig zu und machte sich, ihre grüne Handtasche am linken Arm, auf den Weg zur U-Bahn, mit der sie bis zur Münchner Freiheit im glorreichen Schwabing fuhr. In der Feilitzschstraße, nicht weit vom Englischen Garten, gehörte ihr eine kleine Zweizimmerwohnung. Diese hatte sie sich von dem Geld gekauft, das ihr Mann ihr bei der Scheidung geschenkt hatte. Er hoffte damals, sie noch einmal umstimmen zu können. Doch für sie waren mit dem Tod ihres Sohnes auch die Ehe und das Liebesein mit Robert gestorben.
Manchmal sprach sie davon, die Wohnung zu verkaufen und aufs Land zu ziehen oder nach Berlin und »was ganz Neues« anzufangen. Nur was, das wusste sie nicht, und so blieb alles beim Alten: das Foto im Silberrahmen auf dem Wohnzimmerschrank, die Kiste mit den Spielsachen im Keller, die wöchentlichen Besuche auf dem Nordfriedhof, der Zwölfstundentag im Büro, das ruppige Trinken ab und zu und das nächtliche Weinen, das kleine Schauen, wenn ein Mann ihr gefiel, und das große bei ihrem Mitarbeiter Süden.
»Sie mag Sie«, sagte Paula Senner.
Süden schwieg.
»Sie haben keine Ahnung, wie sehr Sie mich vorhin mit Ihrer Bemerkung erschreckt haben. Oder war das Absicht? Meine Schwester soll eine Analphabetin sein! Wie das klingt. Das klingt vernichtend. Und es ist auch eine Lüge. Sprechen Sie jetzt nicht mehr mit mir?«
Süden trank aus seinem Mineralwasserglas. An ihrem Tisch gegenüber der Eingangstür zum Lokal liefen ständig Leute vorbei, die von der Sonnenstraße kamen oder dorthin wollten. Manche gingen in die Sendlinger-Tor-Lichtspiele, dem ältesten Kino der Stadt, andere blieben am Rand des Biergartens stehen und hielten nach einem freien Platz Ausschau.
Hinter der rot verputzten Bischofskirche St. Matthäus auf der Westseite des Platzes, jenseits der Sonnenstraße, sank die Abendsonne tiefer. Als sie verschwunden war, blieb es immer noch sommerlich mild. Der wüste Regen von gestern schien nicht die geringsten Spuren hinterlassen zu haben.
»Ob Ihre Schwester tatsächlich Analphabetin ist, weiß ich nicht«, sagte Süden. »Aber alles, was Sie mir erzählt haben, deutet darauf hin. Millionen Menschen in Deutschland können nicht oder nur sehr schlecht lesen und schreiben, Sie
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