Süden und das heimliche Leben
Rechnungen, sie machte die Bestellungen. Den Schreibkram erledigte sie. Das war schon vor dem Tod unseres Vaters so, der hat auch nicht gern geschrieben, geschweige denn ein Buch gelesen. Verschwendete Zeit war das für ihn. Manchmal war das lustig, wenn Ilka eine Zeitung in die Hand bekam und mir was vorlesen wollte, sie verhaspelte sich bei jedem zweiten Wort. Und wenn sie mir mal eine Nachricht schrieb, war jedes Wort falsch. Hat mich nicht gestört. Ihre Stärke war das nicht, lesen und schreiben. Hören Sie mir noch zu?«
»Ja«, sagte Süden. »Vielleicht war Ihre Schwester eine Analphabetin.«
Paula gab ein Geräusch von sich, das Süden nicht deuten konnte. Es klang wie ein erschrecktes Seufzen. Dann sagte sie mit leiser, rissiger Stimme: »Das kann niemals wahr sein.«
Süden schwieg.
Als er etwas sagen wollte, brach die Verbindung ab.
Er bildete sich ein, Paula weinen gehört zu haben.
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5
B lauer, dünner Rauch kräuselte sich im Licht der antiken grünen Lampe, hinter der Edith Liebergesell an ihrem Schreibtisch saß, mit gestrecktem Rücken, die Zigarette in der rechten Hand, an der sie ihre silberne Armbanduhr trug, die großen, dunklen Augen auf ihren Besucher gerichtet. Dieser hatte, wie es seiner Art entsprach, nicht vor ihr Platz genommen, sondern war stehen geblieben.
Die Chefin der Detektei war Mitte vierzig, geschieden und Mutter eines Sohnes, der im Alter von acht Jahren entführt und trotz einer Lösegeldzahlung von knapp einer Million Euro ermordet worden war. Die Täter wurden bis heute nicht gefasst.
Nach der Scheidung von Robert Schultheis, der mit seinem Büro »Schultheis & Partner« als einer der erfolgreichsten Immobilienmakler für hochpreisige Objekte in und um München galt, meldete Edith Liebergesell ein Gewerbe an und eröffnete eine Detektei. Ursprünglich wollte sie sich ausschließlich auf das Schicksal vermisster Kinder und Jugendlicher konzentrieren, musste dann aber ihr Aufgabengebiet erweitern, um überleben zu können. Gemeinsam mit zwei Mitarbeitern, einem ehemaligen Geschäftsmann um die sechzig, der als Rentner nicht vor Langeweile eingehen wollte, und einer jungen, nicht ausgelasteten Barfrau, nahm sie bald Aufträge für Ermittlungen jeder Art an, darunter Observationen von Leuten, die entweder vor Schuldnern auf der Flucht waren, außereheliche Liebschaften pflegten oder Unterhaltszahlungen mit der Begründung verweigerten, sie besäßen kein Einkommen, während sie – was oft nicht schwer zu beweisen war – einer regelmäßigen Beschäftigung nachgingen.
Nicht immer waren die Auftraggeber bessere Menschen als die Zielpersonen. Nicht immer entschädigte ein Stundenlohn von fünfundsechzig Euro für den inneren und äußeren Aufwand an Lügen und Verstellungen, der notwendig war, um eine Wahrheit herauszufinden, die am Ende niemandem Glück brachte.
Oft kam Edith Liebergesell sich wie ein Spitzel vor, gelegentlich wie der Fußabstreifer eines Spitzels.
Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen besaß sie keine Pistole, nicht einmal einen Waffenschein, den sie als angemeldete Detektivin ohne Mühe bekommen hätte.
Wenn sie sich wegen einer Beschattung verkleiden musste, lachte sie sich jedes Mal im Spiegel aus. Niemand, dachte sie, nicht einmal der betrunkenste Fremdgeher, würde sie für eine andere halten. Jeder, glaubte sie, würde mit dem Finger auf sie zeigen und rufen: Da kommt die übergewichtige Detektivin!
Merkwürdigerweise war das noch nie passiert.
Seit Tabor Süden bei ihr eingestiegen war, zuständig für Vermissungen und sonst nichts, ertappte sie sich bei der Überlegung, die eine oder andere Mahlzeit und dazu das eine oder andere alkoholische Getränk wegzulassen und wieder einmal die Waage aus dem Keller zu holen.
Logischerweise reagierten auch bei ihr bestimmte Organe eher gleichgültig auf selbstherrliche Direktiven des Gehirns.
Sie drückte die Zigarette in ihrem weißen Aschenbecher aus, der sich irgendwo auf ihrem mit Schreibutensilien, Büchern, Heften und Akten überfüllten Schreibtisch befand. Über alldem thronte ein alter Globus aus Holz.
»Soll ich für dich die Unterlagen aus der Grundschule besorgen?«, sagte sie, nachdem Süden seinen Bericht beendet hatte. »Ich finde raus, wer dieser Zeiserl war.«
»Zuerst spreche ich noch einmal mit der Schwester«, sagte Süden. »Dann gehe ich in Ilkas Wohnung.«
»Hast du einen Schlüssel?«
»Nein.«
Edith Liebergesell stand auf. Sie zupfte am Blazer ihres
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