Süden und das heimliche Leben
brauchen also nicht zu erschrecken. Ihre Schwester ist kein Einzelfall.«
»Das führt doch zu nichts.« Mit dem rechten Daumen rieb Paula Senner nervös über ihren Ring. Zum ersten Mal fiel Süden auf, dass hinter ihrer kontrollierten, lässigen Haltung noch etwas anderes verborgen war, die Ängstlichkeit eines Menschen vielleicht, der zu früh erwachsen werden und jeden Anflug von Unsicherheit und Zweifel unterdrücken musste.
Mit angespannter Miene sah sie hinüber zu den Türmen des alten Tores, unter dem zwei Polizisten einen Obdachlosen kontrollierten. Dann schüttelte sie den Kopf, als kommentiere sie das Geschehen. »Sie stochern im Nebel, weil Sie keine Spur haben. Meine Schwester kann sich nicht wehren, aber wenn sie wieder da ist, werde ich ihr sagen, wie Sie über sie gesprochen haben, und dann müssen Sie sich rechtfertigen.«
»Das werde ich tun.«
»Hoffentlich.«
»Selbstverständlich.«
»Dann ist’s ja gut.« Sie trank einen Schluck Weißwein und schaute wieder zum Tor. Beladen mit vier Plastiktüten, trottete der Stadtstreicher davon, die Polizisten folgten ihm einige Meter und bogen dann zum Oberanger ab.
Paula wandte sich an Süden. »Sie haben mich herbestellt, also fragen Sie mich was. Wieso sagen Sie nichts? Ist das Ihre Art, so?«
»Ja.«
»Aha. Und so bringen Sie die Leute zum Sprechen?«
»Manchmal.«
»Eher selten, glaube ich.«
»Schon oft.«
»Schon oft.«
»Ja.«
»Mich jedenfalls nicht.«
»Doch.«
»Witzig.«
»Das ist nicht witzig«, sagte Süden. »Ihre Schwester ist verschwunden, sie könnte sich umgebracht haben, sie könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Und die Frage ist jetzt, wie sie als Analphabetin jahrzehntelang unentdeckt bleiben konnte. Da war ein Anrufer, dessen Identität wir nicht kennen. Da taucht ein Unbekannter vor der Kneipe auf, und Ihre Schwester kannte ihn anscheinend. Über das Leben Ihrer Schwester weiß niemand etwas Genaues, außer dass sie sechs Tage in der Woche bedient und gut mit den Gästen auskommt.
Sie hatten wenig Kontakt zu Ihrer Schwester und dafür Ihre Gründe, das habe ich verstanden. Ihre Kindheit war geprägt von der Gewalt Ihres Vaters und der Feigheit Ihrer Mutter. Sie mussten mit ansehen, wie Ihre Schwester kleingehalten und zu harter Arbeit gezwungen wurde. Sie haben sich nicht gewehrt, Sie waren zu schwach, das ist verständlich. Also suchten Sie nach einem Ausweg, beendeten die Schule und heirateten den erstbesten Mann, der sich als der Erstschlechteste herausstellte. Und wieder gelang Ihnen der Ausbruch, wieder schlugen Sie die Tür hinter sich zu und gingen ins Offene, diesmal nach Berlin.
Und nun sind Sie zurückgekommen, angeblich wegen der Krankheit Ihrer Mutter, aber ob das der wahre Grund ist, weiß ich nicht. Vielleicht gehen mich Ihre Gründe auch nichts an. Was in all den Jahren mit Ihrer Schwester Ilka geschah, interessierte Sie nicht, wie schon damals, in Ihrem Elternhaus. Sie kümmerten sich um Ihre eigenen Dinge, die waren schwer genug zu bewältigen.
Ich verurteile Ihr Verhalten nicht, ich höre Ihnen zu und stelle Zusammenhänge her, dafür werde ich bezahlt. Übrigens hat sich Ihre Schwester in all den Jahren offensichtlich ebenso wenig für Sie interessiert, und auch sie wird ihre Gründe gehabt haben. Und Ihre Mutter? Was war mit der? Hat sie sich nach Ihrem Befinden erkundigt? Nach dem Befinden Ihrer Schwester? Vermutlich nicht. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, wie Sie in der Ihren in Berlin, wie Ilka in der Kneipe und am Spitzingplatz. Aber von diesem Leben wissen wir nichts.
Was machte Ilka, wenn sie die Kneipe verließ und nach Hause ging? Wer oder was erwartete sie dort? Hatte sie einen Freund? Offenbar nicht. Hatte sie ein Haustier? Hatte sie Freunde, mit denen sie sich traf, ins Kino ging, zum Baden, zum Essen? Die Polizei hat nichts herausgefunden. Machte sie Fahrradtouren? Sie hat ein Fahrrad, das steht abgeschlossen im Hinterhof. Wohin fuhr sie damit? Hatte sie einen Begleiter oder eine Begleiterin? Rief sie manchmal ihre Mutter an? Nein, auch das hat die Polizei festgestellt.
Wer ist Ihre Schwester, Frau Senner? Und warum starren Sie mich an, als würde ich Ihnen eine unerhörte und böse Geschichte erzählen?«
»Ich …« Sie starrte ihn an, weil sie von der Wucht seines Sprechens überrumpelt worden war. Als hätte Marcel Marceau auf offener Bühne plötzlich eine Arie gesungen.
Süden winkte der Bedienung und bestellte ein Bier. Im selben Moment fuhr ein indischer
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