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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Zeitungsverkäufer, den Süden seit Jahren kannte, mit seinem Moped vor. Er stellte es ab, nahm einen Packen Zeitungen aus den roten Transporttaschen und hielt die Ausgabe von morgen hoch, während er als Erstes zu Südens Tisch ging. Sie begrüßten sich. Wie fast jedes Mal sagte der Inder: »Und? Heute viele Leute gefunden?« Und Süden sagte, wie fast immer: »Zu wenige.« Er kaufte zwei Boulevardzeitungen, der Inder sagte: »Viel Glück.« Süden erwiderte: »Alles Gute.« Beide kannten den Namen des anderen nicht.
    Süden blätterte eine der Zeitungen durch und fand, was er suchte. Auf der ersten Seite des Lokalteils war ein Foto von Ilka Senner abgedruckt, darunter ein paar Zeilen mit Angaben zu ihrer Person und dem Zeitpunkt ihres Verschwindens. In der anderen Zeitung dasselbe Foto. Es zeigte eine Frau mit einem schmalen, blassen Gesicht, einem kindlichen Lächeln, hochgezogenen Augenbrauen, als staune sie über etwas, hellbraunen, kurz geschnittenen Haaren, einem weißen Pullover mit V-Ausschnitt und Bluejeans. Die Sechsundvierzigjährige saß auf einer Parkbank vor Sträuchern, die Hände im Schoß. Süden fand, sie wirkte wie jemand, der da stundenlang saß und auf nichts wartete.
    Paula betrachtete lange das Foto ihrer Schwester. »Sie hat sich die Haare gefärbt«, sagte sie. »Als Kind hatte sie rötliche Haare.« Sie strich mit dem Handrücken über das Bild. »Sie haben recht, ich weiß nichts von ihr, und sie weiß nichts von mir. Wir haben uns einfach ignoriert, fast dreißig Jahre lang. Und dann komme ich zurück, und sie verschwindet spurlos. Ist das Zufall? Ja, alles andere wäre fürchterlich. Das ist absurd, oder? Das ist ein dummer Gedanke.«
    »Kein dummer Gedanke«, sagte Süden. »Aber abwegig. Schade, dass Sie keinen Schlüssel für Ilkas Wohnung haben, dann hätten wir hinfahren können.«
    Erschreckt hob Paula den Kopf. Sie wollte etwas sagen, zögerte, fuhr sich durch die Haare und gab erneut einen Seufzer von sich. »Aber das … das kann doch nicht wahr sein. Ich hab doch … ich habe einen Schlüssel! Das hatte ich völlig vergessen. Als die Polizei auftauchte und mir mitteilte, dass Ilka verschwunden ist, war ich so verwirrt, dass ich nicht daran gedacht habe. Stellen Sie sich so was vor. Sie hat mir einen Schlüssel gegeben! Als ich das letzte Mal bei ihr war. Was hat das denn wieder zu bedeuten? Helfen Sie mir, bitte. Ilka hat zu mir gesagt, ich solle den Schlüssel nehmen, für alle Fälle, falls sie ihren mal verliert. Ich verstehe das nicht. Wie kann man denn vergessen, dass man einen Wohnungsschlüssel von der eigenen Schwester hat?«
    Süden sagte: »Sie haben einfach nicht mehr daran gedacht.«
    »Aber wieso denn nicht? Wieso nicht?«
    »Sie haben früher auch nicht an Ihre Schwester gedacht.«
    Wieder war sie kurz davor, etwas zu sagen. Wieder brachte sie zunächst keinen Ton heraus. »So was dürfen Sie … Aber …«
    Die Bedienung, die ein Dirndl trug und eine Sonnenbrille ins Haar gesteckt hatte, kam an ihren Tisch. »Noch einen Wunsch, die Herrschaften?«
    Wortlos sah Paula die junge Frau an.
    »Ich zahle«, sagte Süden. »Alles zusammen.«
    Die Bedienung nannte den Betrag, steckte das Geld ein und verschwand im Lokal, in dem inzwischen ebenfalls Gäste saßen.
    »Brechen wir auf«, sagte Süden.
    »Gleich. Ich muss erst … Die Polizei … Die Kommissarin rief einen Schlüsseldienst an. Ich stand die ganze Zeit dabei. Zwanzig Minuten oder länger. Und hab nicht an den Schlüssel gedacht, der bei mir in der Küche in einer Tasse liegt. Das weiß ich doch. Und trotzdem habe ich mich wie ein Idiot benommen. Ist mir meine Schwester so gleichgültig geworden? Haben wir uns so weit voneinander entfernt, dass ich den Schlüssel zwar annehme und an eine bestimmte Stelle lege, wo ich ihn auch wiederfinde, aber ihn dann sofort vergesse, als wäre es irgendein läppisches Gratisgeschenk aus dem Supermarkt? Bin ich so abgestumpft? Was ist denn mit mir los?«
    »Den Schlüsseldienst bezahlt die Polizei«, sagte Süden. »Auch mit Ihrem Schlüssel hätte die Kommissarin keine Spur zu Ihrer Schwester gefunden.«
    »Sie wollen mich bloß trösten.«
    »Natürlich.«
    »Sie können mir ins Gesicht sagen, wie dumm ich mich verhalten habe, wie verantwortungslos und schäbig. Am liebsten würde ich heulen.«
    »Wir gehen jetzt zu Ihnen, holen den Schlüssel und fahren zum Spitzingplatz.«
    »In der Wohnung ist nichts, ich war doch schon dort.«
    »Ich muss mir ein Bild vom Leben

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