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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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auch. Mir ist etwas schwindlig, kann ich mich kurz hinsetzen?«
    Beinahe hätte Süden gelächelt. Er deutete zur Couch. Paula ging hin und setzte sich, lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Ihr Blick fiel auf den Bastkorb. »Als Kind hat sie sich immer eine Katze gewünscht«, sagte sie. »Streng verboten! Ich habe mir einen Hund gewünscht. Noch strenger verboten! Ach, Ilka.«
    Wieder sah Paula sich um, als wäre sie zum ersten Mal hier. Dann kippte sie zur Seite, legte den Kopf auf die Lehne und blieb reglos und mit geschlossenen Augen liegen.
    Mehr aus Ratlosigkeit als aus dem Bedürfnis heraus, sich entspannen zu wollen, setzte Süden sich an den kleinen viereckigen Tisch in der Ecke, auf den einzigen Stuhl im Raum. Auf dem Tisch lag eine weiße gehäkelte Decke. An der Wand gegenüber stand ein einfacher, weiß lackierter Schrank, den Ilka vermutlich selbst zusammengebaut hatte. Die vier Regale hatte sie mit Plastikfiguren und Plüschtieren, Gläsern, in denen künstliche Blumen steckten, Trinkgläsern in unterschiedlichen Formen und Größen, Kerzen auf Zinktellern, Bierkrügen und stapelweise Bierdeckeln vollgestellt. Einige Dinge, dachte Süden, mussten aus Schießbuden vom Oktoberfest oder der Auer Dult stammen. Dazu gehörten garantiert die beiden Bären und die Giraffe auf dem obersten Regal.
    Süden sah zum Fernseher neben dem Fenster: kein Video- oder DVD -Spieler. Nur ein braunes, staubfreies Röhrengerät.
    Kein Parkett, sondern Laminatboden. Im Schlafzimmer grauer Auslegeteppich, Doppelbett mit blauer Tagesdecke, ein weißer Schrank mit verglasten Türen, ein niedriges Nachtkästchen mit drei leeren Schubladen. Keine Hausschuhe vor dem Bett oder im Flur. An dem gelben Kleiderständer im engen Durchgang zwischen Eingangstür und Wohnzimmer hingen auf Bügeln eine taubengraue Strickjacke, ein schwarzer Regenmantel und eine Jeansjacke. Am Fuß des Kleiderständers standen nebeneinander zwei fast identisch aussehende Paare heller Halbschuhe und ein Paar Sandalen mit Absätzen. Kein Schuhschrank.
    Vom Flur gelangte man ins Wohnzimmer, rechts davon lag die winzige Küche, daneben das Schlafzimmer, geradeaus das fensterlose Bad. Die Badewanne glänzte. Im Spiegelschrank über dem Waschbecken Kosmetikutensilien, Papiertaschentücher, eine neue Zahnpastatube, Pflaster und Kräutertinkturen. Auf einem Glasschränkchen gefaltete Handtücher in verschiedenen Größen. Kein Waschbeutel. Keine Kondome. Keine Monatsbinden oder Tampons.
    In einem der Hängeschränke in der Küche außer Geschirr harmlose Schmerzmittel, Hustensaft, Hals- und Grippetabletten, Küchenrollen, Gummiringe fürs Waschbecken.
    Nichts, was Süden stutzig machte.
    Nichts in der Wohnung, was ihm einen Hinweis auf den Verbleib der Mieterin hätte geben können. Alles, was er sah, waren die Insignien eines bescheidenen, vielleicht einsamen Menschen, der sich selten zu Hause aufhielt und die wenige Zeit zum Putzen und Aufräumen nutzte.
    In solchen Wohnungen hatte Süden sein halbes Leben verbracht. Er war immer nur Gast gewesen und oft länger geblieben als dienstlich vorgesehen. Er wurde gebeten, Platz zu nehmen und Dinge zu sagen, die ein Wunder bewirken sollten. Das Wunder der Rückkehr, das Wunder der Wiederauferstehung, das Wunder des gewohnten Lebens. Er saß da und sagte Dinge, die nicht genügten. Umgeben von Lügnern, die keine Schuld an ihren Lügen hatten – sie wussten es nicht besser –, beschwor er deren Geduld und Vertrauen. Und jedes Mal, wenn er in ihre Gesichter sah, begriff er, dass er, wenn er nicht log, als seelenloser Lügner gelten würde. Also betete er seelenlose Statistiken herunter, erklärte, dass siebenundneunzig Prozent aller Vermisstenfälle innerhalb eines Jahres aufgeklärt würden und die übrigen im Lauf der nächsten drei Jahre. Nur die wenigsten verschwundenen Menschen, sagte Süden und ließ es bedeutend und trostvoll klingen, blieben für immer unauffindbar. Von denen, die gefunden wurden, waren höchstens eine Handvoll Opfer eines Verbrechens geworden. Bevor nicht sämtliche Spuren ausgewertet, sämtliche privaten und beruflichen Kontakte überprüft und sämtliche Zeitabläufe exakt bestätigt seien, gäbe es keinen Grund für schwarze Gedanken. Dabei blickte er in die Runde und hoffte, das Grün seiner Augen beinhalte einen erkennbaren Hoffnungsschimmer.
    Nie erwähnte er, dass die meisten Verschwundenen, die tot aufgefunden wurden, Selbstmord begangen hatten. Die Zahl der

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