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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Weinflasche könnte er später immer noch öffnen.
    In der Küche nahm er ein Glas aus dem Schrank und ließ Wasser aus dem Hahn in der Spüle laufen. Es war kühl und schmeckte angenehm. Er trank ein zweites Glas, ein drittes. Er stellte das Glas auf die Ablagefläche und ging zurück ins Wohnzimmer, verwirrt von sich selbst, ziemlich ratlos. Außerdem musste er auf die Toilette. Das war ihm ein wenig peinlich, aber schließlich hatte er keine andere Wahl.
    Nachdem er sich die Hände gewaschen und an einem frischen Handtuch abgetrocknet hatte, kehrte er zum Tisch im Wohnzimmer zurück.
    Er setzte sich.
    Er legte den Schlüssel, den er die ganze Zeit, auch in der Küche, in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und faltete die Hände.
    Einen Augenblick später sprang er auf.
    Für einen Moment stand er wie erstarrt da. Dann ging er zur Balkontür und schloss sie. Nur das durchdringende Zwitschern der Amseln war noch zu hören, alle anderen Geräusche wirkten wie ausgeblendet.
    Mit schnellen Schritten ging er in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Er betrachtete den Strahl und drehte wieder zu. Im Bad tat er dasselbe im Ausguss und in der Wanne. Am Ende hob er den rosafarbenen Toilettendeckel hoch und sah hinein, als würde er etwas erkennen, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Er klappte den Deckel zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
    Endlich wusste er, was ihn irritiert hatte.
    Und er fragte sich, warum er nicht sofort darauf gekommen war. Als Kommissar im Dienst hätte ihm das auf keinen Fall passieren dürfen.
    In manchen Dingen war er möglicherweise aus der Übung.
    Beim Betreten der Wohnung hatte er zwar sofort das Fehlen jeglicher Lektüre bemerkt, aber er hatte nicht gut genug geschnuppert. Außer an dem Bastkorb vor dem Heizkörper. Und vielleicht hatte der leichte Geruch des Korbes ihn abgelenkt, ihn in die Irre geführt und vom Wesentlichen abgelenkt.
    Das Wesentliche war, dass die Wohnung nicht muffig roch, sondern vollkommen gewöhnlich. Wie jede beliebige Wohnung, die Fenster und eine Balkontür hatte. Natürlich wurden die Fenster und Türen geöffnet, vor allem, wenn endlich der Sommer begann und frische Düfte hereinwehten.
    Die Wohnung der vor fast fünf Wochen verschwundenen Ilka Senner wurde regelmäßig gelüftet.
    Außerdem öffnete der heimliche Besucher nicht nur Fenster und Balkontür, er ließ auch das Wasser in der Küche und im Badezimmer laufen, damit sich in den Rohren kein Rost ansetzte, was in den jahrzehntealten Häusern fast automatisch passierte, wenn der Wasserfluss für längere Zeit unterbrochen war.
    Bei dem Besucher handelte es sich entweder um Ilka Senner selbst oder um jemanden, zu dem sie tiefes Vertrauen und dem sie deshalb den Schlüssel geliehen hatte.
    Doch nach allem, was Süden bisher erfahren hatte, pflegte Ilka mit niemandem eine innige Beziehung, sie war durch und durch ein Einzelwesen, trotz ihrer Arbeit in einem Gasthaus und ihrem ständigen Umgang mit Leuten.
    Von morgen an, dachte Süden, würde es noch schwerer für Ilka werden, sich unbemerkt zum Spitzingplatz und in ihre Wohnung zu schleichen. Morgen veröffentlichten die Münchner Zeitungen ihr Foto, und die Nachbarn erfuhren, dass sie verschwunden war und von der Polizei gesucht wurde. Bisher wäre bei einer zufälligen Begegnung niemandem etwas aufgefallen, Ilka hielt sich sowieso kaum zu Hause auf. Allerdings hatte sie offensichtlich wirklich niemand gesehen, sonst hätte ziemlich sicher ein Zeuge der Kommissarin gegenüber davon erzählt.
    Warum aber verschwinden und sich trotzdem um die Wohnung kümmern? Zwang zur Sauberkeit?
    Jetzt fiel ihm noch etwas ein: Aus dem Briefkasten im Parterre ragte keine Post. Die Kommissarin hatte weder Briefe noch sonstige Mitteilungen vorgefunden. Zwei Nachbarinnen hatten ihr erzählt, Ilka würde »praktisch nie« Post bekommen, und am Briefkasten hing ein Aufkleber: »Bitte keine Werbung!«
    Wer außer Ilka, dachte Süden, könnte heimlich in die Wohnung kommen?
    Jemand aus der Kneipe? Einer der Stammgäste? Der Wirt? Die Frau des Wirts? Das hielt Süden für unwahrscheinlich. Wer dann? Der Unbekannte vor dem Lokal? Jener Zeiserl, der angerufen und mit dem Ilka das Gespräch abrupt abgebrochen hatte? Waren der Unbekannte aus der Perlacher Straße und der ehemalige Mitschüler dieselbe Person?
    Er musste die Jahrgänge der Grundschule an der Hiltenspergerstraße überprüfen.
    Dann dachte er wieder: Warum verschwinden und trotzdem heimlich zurückkehren, und

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