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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Suizide stieg von Jahr zu Jahr. Manchmal ahnte Süden bereits beim Ausfüllen der Vermisstenanzeige die Katastrophe und dass die Angehörigen sie ebenfalls ahnten, aber alles Menschenmögliche daransetzen würden, ein Wunder zu beschwören.
    So kam der Beschwörer Süden in ihre Zimmer, und sie hörten ihm zu und ließen ihn ausreden und erwiderten seine Blicke mit einer Dankbarkeit, an die sie beinahe glaubten. An der Wohnungstür schwiegen sie dann, wie er, und wenn sie die Tür hinter ihm schlossen, brandete eine Lawine aus Einsamkeit über sie hinweg, und sie mussten überleben.
    In solchen Zimmern ging Süden eine Zeitlang ein und aus. Und jetzt, nachdem er längst kein Kommissar mehr war, saß er wieder in einem Zimmer voller Abwesenheit, auf dem einzigen Stuhl, und schaute zur Wand und zum Fenster, zwischendurch zur reglos daliegenden Frau auf der Couch, und zügelte seine Ahnungen.
    Welchen Grund, dachte er, könnte Ilka Senner haben, sich umzubringen? Was wäre der Auslöser gewesen, und warum hatte sie sich nicht einmal ihrer Schwester anvertraut oder wenigstens einen Brief hinterlassen?
    Kein Abschiedsbrief. Kein Zettel.
    Liebe Mama, lieber Papa, ich habe euch viele Sorgen gemacht, aber ich werde euch nie mehr Sorgen machen. Ich sehe in der Welt und im Leben keinen Sinn mehr. Lebt wohl.
    Hunderte Briefe, Tausende hingekritzelter oder mit der Schreibmaschine sorgfältig getippte Wörter. Vier Schubladen voller Abschiedsbriefe hatte Süden in seinem Büro im Dezernat. Er hatte sie von Hinterbliebenen erhalten oder von jenen geschickt bekommen, die ihm für seine Suche danken wollten, obwohl diese vergeblich gewesen war. Jeden dieser Briefe und Zettel hatte er gelesen und dann aufbewahrt. Und wieder hervorgeholt und nochmals gelesen. In die Schublade gesteckt, in einen Ordner sortiert und wieder herausgezogen und gelesen. Und nie war die Traurigkeit versiegt, sie stieg jedes Mal von neuem in ihm auf, auch beim achten Mal, beim zehnten und vierzehnten. Manche Briefe kannte er vorübergehend auswendig. Manche Sätze hörte er wieder, wenn er in einer Wohnung saß, in der jemand fehlte, eine Stimme, ein Geruch, er hörte die Sätze und redete sie weg, redete, was nicht seiner Art entsprach, und mimte den Magier im weißen Hemd mit dem blauen Stein an der Halskette.
    Liebe Mama, lieber Papa …
     
    »Was ist mit Ihnen?«
    Er erschrak und drehte den Kopf zur Couch, auf der Paula sich aufgerichtet hatte.
    »Weinen Sie?«
    »Nein.«
    »Entschuldigung.«
    »Wir sollten vielleicht doch den Wein trinken«, sagte er.
    Sie stand auf, rieb sich übers Gesicht. »Ich lasse Sie allein. Ich bin hier verkehrt. Rufen Sie mich an, morgen früh, oder wann immer Sie wollen.«
    Auch Süden stand auf. »Danke für den Schlüssel. Und fürs Ehrlichsein.«
    An der Tür gaben sie einander nicht die Hand. Beim Hinuntergehen hielt Paula sich am Treppengeländer fest. Süden schloss die Tür und zog den Schlüssel ab, ohne zugesperrt zu haben. Vor dem gelben Kleiderständer blieb er stehen und hörte den Stimmen und Geräuschen zu, die durch die geöffnete Balkontür hereindrangen.
    Etwas stimmte nicht, dachte er. Etwas irritierte ihn, und er kam nicht darauf, was es war.
    Noch einmal ging er in jedes Zimmer, drehte sich im Kreis, betrachtete die Gegenstände und Möbel, lehnte sich an die Wand, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, spielte mit dem Schlüssel in seinen Händen. Im Bad setzte er sich auf den Wannenrand, beugte sich nach vorn, die Arme auf den Oberschenkeln, ließ seinen Blick schweifen, bis hinüber ins Wohnzimmer, dessen Tisch mit der gestickten Decke er von seinem Platz aus sehen konnte.
    Zehn Minuten lang wanderte er von einem Zimmer ins andere. Hin und her, verharrte, machte ein paar Schritte, blieb wieder stehen und schaute sich um. Nichts, was ihm ins Auge stach. Nichts, was er nicht schon kannte. Trotzdem nahm seine Unruhe nicht ab, im Gegenteil: Je öfter er von Raum zu Raum ging, desto überzeugter war er, dass er etwas übersah. Dass etwas unmittelbar vor seinen Augen und seiner Nase stattfand, das er längst hätte begreifen müssen.
    Dann stellte er sich in die Balkontür und schaute von dort aus ins Zimmer, zum Flur, zum Schrank, zur Couch, zum kleinen Tisch. Auf dem Spielplatz unten verstummten allmählich die Kinder, liefen nach Hause oder wurden von den Eltern abgeholt. Die Dämmerung setzte ein. Die Wärme blieb, ein leichter Wind wehte. Süden beschloss, ein Glas Wasser zu trinken. Die

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