Süden und das heimliche Leben
sagte die Kommissarin und betrachtete den roten Ball, den sie in eine kleine durchsichtige Plastiktüte gesteckt hatte. »Du hast dich von einem Taschenspieler austricksen lassen.«
»Er hat mich niedergeschlagen«, sagte Süden, als erscheine sein Verhalten dadurch in einem weniger peinlichen Licht. Er stand vor der halbgeöffneten Balkontür und schaute hinaus, zum Haus gegenüber, zu den Bäumen am Spielplatz, Hauptsache nicht ins Zimmer.
»Du hast dich von ihm an der Nase herumführen lassen, wie an einem Nasenring.«
»Er ließ den Schlüssel verschwinden und wiederauftauchen.« Er hörte sich als Zehnjährigen sprechen.
»Phantastisch.« Birgit Hesse steckte den Beutel mit dem Ball in ihre lederne Umhängetasche. »Und dann ließ er sich selber verschwinden. Es ist halb fünf Uhr morgens, da finden normalerweise keine Zirkusvorstellungen statt. Was soll ich jetzt tun?«
»Die Fingerabdrücke auf dem Ball abgleichen«, sagte Süden. Am liebsten würde er sich nie mehr umdrehen.
»Ich weiß schon, welche wir finden werden. Deine.«
Süden drehte sich um. »Er hat Ilkas Handy mitgenommen. Vermutlich ist er deswegen hergekommen.«
»Was will er mit dem Handy?«
»Ilka hat ihn geschickt.«
»Dann war er es auch, der regelmäßig die Wohnung gelüftet hat.«
»Vielleicht«, sagte Süden.
»Außerdem hat er deinen Schlüssel geklaut. Wieso?«
»Ich weiß es nicht.«
»Diese Vermissung wird immer eigentümlicher.« Die Kommissarin warf ihm einen müden, belustigten Blick zu. »Was macht dein Kopf?«
»Denkt zu langsam.«
»Dabei heißt es doch, dass ein Schlag auf den Hinterkopf das Denkvermögen fördert.«
»Niemand sagt das.«
»Meine Großmutter hat es gesagt.«
»Deswegen denkst du so schnell und präzise«, sagte Süden. »Ich muss sofort den Namen überprüfen. Aki Polder.«
»Ein Phantasiename.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wieso glaubst du das nicht?«
»Er bedeutet irgendetwas«, sagte Süden und hob endlich seine Jacke vom Boden auf und zog sie an. »Der Name klingt wie der eines anderen Zauberers. Aki Polder.«
»Ich werde den Computer fragen. Soll ich dich nach Hause fahren?«
»Ich gehe zu Fuß.«
»Schaffst du das?«
»Er hat mir keine Eisenstange über den Kopf gezogen.« Süden hatte einen trockenen Mund, eine trockene Kehle, ausgetrocknete Gedanken.
Sie verließen die Wohnung, ohne die Klinken zu berühren. Mit einem Taschentuch zog Süden die Tür von außen zu. Möglicherweise musste die Kripo doch noch Spuren sichern, falls der Mann zur Fahndung ausgeschrieben werden sollte.
Es wurde hell, dunkle Wolken zogen am Himmel auf, der Wind war kühl.
»Mein Wetter-App verspricht nichts Gutes«, sagte Birgit Hesse. Sie sperrte ihren schwarzen Fiat auf und warf die Tasche auf den Beifahrersitz.
Süden wusste nicht, was ein Wetter-App war, aber er fragte nicht nach. In dieser Nacht hatte er sich schon genug blamiert.
»Bis heute am späteren Tag«, sagte sie und stieg ein.
Er wartete, bis sie losgefahren war, und machte sich dann auf den Weg zu seiner Wohnung in der Scharfreiterstraße. Eine halbe Stunde lang ging er auf der rechten Seite der Schlierseestraße, die bald Schwanseestraße hieß, in östlicher Richtung, vorbei an der Wohnanlage, in der er früher gelebt hatte. Er überquerte die mehrspurige Chiemgaustraße und bog schließlich, nicht weit vom Untersuchungsgefängnis Stadelheim, in die Scharfreiterstraße ein.
Und auf der gesamten Strecke dachte er an nichts anderes als an die unbegreifliche Wanderung des roten Balles aus den Händen des Zauberers in die Außentasche seiner am Boden liegenden Lederjacke.
Über diesem Gedanken schlief er dann auch ein, und als er sechs Stunden später aufwachte, war der Gedanke immer noch da.
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8
U m zehn nach zwölf rief Hauptkommissarin Birgit Hesse auf Südens Handy an. Sie vermeldete keine überraschenden Neuigkeiten. »Bei uns ist kein Aki Polder registriert«, sagte sie. »Die Abgleichung der Fingerspuren hat auch nichts ergeben, dein Freund, der Zauberer, ist polizeilich noch nicht in Erscheinung getreten.«
»Heute Nacht schon«, sagte Süden.
»Willst du Anzeige erstatten?«
»Nein.«
»Wie geht’s dir?«, sagte Birgit Hesse. »Was macht dein Kopf?«
»Sitzt fest.« Er hörte, wie sie einen Schluck trank. Sein Kaffee war wie immer kalt geworden.
»Hat dir eigentlich die Schwester was erzählt, das uns weiterhelfen könnte?«
»Eigentlich nicht«, sagte er. Er war nicht verpflichtet, Informationen
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