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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Augen. »Warum hast du das damals getan?« Ihre Stimme verriet wieder nicht die geringste Aufregung. »Warum hast du den Gregor vom Baum geschmissen wie ein Stück Holz? Jemanden von einem Baum schubsen, so was machen nur Arschlöcher.«
     
    Etwa zehn Minuten später, als es bereits um etwas ganz anderes ging, dachte Zeisig, sein über die Jahre vorgeglühter Zorn sei nicht wegen des Wortes explodiert. Was ihn dazu brachte, Ilka mit beiden Händen vom Stuhl zu stoßen, sich über sie zu knien und so lange zu ohrfeigen, bis sie stumm und zitternd dalag und aus der Nase blutete, war die Sanftmut in ihrer Stimme, das beinahe lieblich klingende Wort »Arschlöcher«. Als wären damit sehr fremde, sehr andere Wesen gemeint, in einer früheren Zeit in einem unbekannten Land.
    Und nicht er. Und nicht er. Und sonst niemand.
    Danach erhob er sich, schaute auf ihren zuckenden Körper hinunter, sah das Blut unter ihrer Nase und auf den Lippen, die kalkweiße Haut ihrer Arme, die aus dem ärmellosen schwarzen Hemd ragten, das er ihr geliehen hatte, die verkrümmt daliegenden Beine in der Bluejeans, die nackten Füße mit den rosa lackierten Nägeln, die auf dem Fußboden flatternden Finger.
    Das alles sah er, und die Bilder brannten sich in seinen Kopf. Im Gegensatz zu ihr war er vollkommen reglos.
    Sie schlug die Augen auf und starrte zu ihm hoch. Er trat einen Schritt beiseite, steckte seine von den Schlägen brennenden Hände in die Hosentaschen.
    Ilka kippte zur Seite, stützte die Hände auf den Boden, schob den Hintern in die Höhe, kam auf die Knie, sackte zusammen. Blut und Rotz klebten auf ihrem Hemd. Sie schniefte und schluchzte. Aber sie blieb nicht liegen. Sie hatte die Kraft, zur Spüle zu kriechen, vorbei an den grünen Hosenbeinen des Mannes.
    Sie streckte beide Arme aus, hinauf zur Anrichte. Sie klammerte sich an die Kante und zog sich in die Höhe.
    Im Stehen schwankte sie. In ihrem Kopf hallte das unaufhörliche Patschen wider. Die Stelle am Hinterkopf, mit der sie auf dem Boden aufgeschlagen war, pulsierte und schien nach innen zu wachsen.
    Sie drehte den Kopf.
    Der Mann gaffte sie an. Sie kannte diese Art des Schauens, sie kannte es gut und hatte es fast vergessen gehabt. Das war ein vertrauter Anblick, und sie lächelte, obwohl sie es verhindern wollte.
    In den Augen des Mannes passierte eine Veränderung. Da war ein Staunen, eine Unsicherheit. Auch diese Reaktion kannte sie, auch wenn sie geschworen hätte, sie nie wieder erleben zu müssen.
    Für Bertold Zeisig hatte Ilka eine Schwelle überschritten, wofür sie bis an ihr Lebensende büßen müsste. Auf welche Weise, das würde er noch entscheiden. Er hatte Zeit. Von jetzt an spielte Zeit keine Rolle mehr. Mit ihrem Verhalten hatte Ilka die Zeit aus den Angeln gehoben.
    Und wenn sie weiter dastand und ihn anglotzte, als hätte sie ein Recht dazu, würde er gleich wieder handeln müssen.
    Alles veränderte sich, dachte er, von Grund auf und für alle Zeit.
    Er war so sehr in sein Denken verstrickt – etwa so, wie seine Zuschauer in die Vorstellung vom magischen Verschwinden eines roten Gummiballs verstrickt waren –, dass er kaum wahrnahm, wie mühelos Ilka sein Leben mit dem Obstmesser veränderte.

[home]
    10
    W arum«, fragte Süden zum letzten Mal, »darf ich nicht zu Ihnen kommen?«
    Der Mann am anderen Ende hustete, länger, lauter als bisher, und als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme brüchig. »Sie wissen doch jetzt alles, mehr weiß ich nicht über den Zeiserl, und den Namen will ich eh nie mehr hören.«
    »Ich will gar nicht mehr von Ihnen erfahren, ich will wissen, wovor Sie Angst haben.«
    »Vor den Leuten«, sagte Gregor Polder. »Nicht dass ich glaub, sie tun mir was, ich halt nur ihre Nähe nicht aus. Verstehen Sie das?«
    »Ja.«
    »Wirklich?«
    »Aber Zeisig haben Sie reingelassen. Weil er Sie überrumpelt hat.«
    »Schrecklich. Ich seh ihn noch heut dasitzen, auf der Terrasse, wie ein Einbrecher. Wieso hab ich den nicht rausgeschmissen? Das verzeih ich mir nicht. Ich mag niemanden mehr sehen, ich leb hier im Haus, tipp meine Geschichten und schick sie weg und krieg Geld, und kurz vor Ladenschluss geh ich einkaufen und sag zu allen bitte und danke und sperr die Tür hinter mir ab und bin für mich. Ich hab auch niemandem was zu sagen, zuhören geht noch, aber selber sprechen fällt mir immer schwerer. Vielleicht bin ich nicht mehr ganz dicht im Kopf. Ist mir gleich. Ich belästige niemanden mit meinem Leben, und ich will

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