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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sagte Süden, »sie wird nicht festgehalten, sie kann sich frei bewegen. War jemand bei ihr?«
    »Das wissen wir nicht. An einen Begleiter können sich die beiden Zeugen nicht erinnern. Die Aussagen sind viel zu vage. Jetzt bist du dran, wenn du mit deiner Breze fertig bist.«
    Auf dem Weg von Giesing ins Zentrum hatte Süden abgewogen, was er der Kommissarin erzählen wollte. Ob er überhaupt Ilkas Motive erwähnen und nicht besser noch eine Zeitlang auf seine Art weiter recherchieren sollte – auch um sein Honorar zu rechtfertigen und den Auftrag nicht zu verwässern.
    Je länger er jetzt darüber nachdachte, desto glaubwürdiger erschienen ihm die Aussagen der Zoobesucher, auch wenn er noch keine überzeugende Erklärung dafür hatte. Das war sein altes Gespür für die Wahrheit mitten im Nebel. Die Zeugen könnten in ihrer Vorstellung das Bild aus der Zeitung mit einer tatsächlichen Begegnung vermischt haben. Das Foto veränderte ihre Wahrnehmung in der Erinnerung, und aus einem zufälligen Blick wurde ein Schnappschuss, den sie für echt hielten.
    Auch er, Süden, könnte sich in eine Wunschvorstellung hineingesteigert haben und sich einreden, dass das Auftauchen der verschwundenen Frau genau an dem Tag, an dem er mit seinen Ermittlungen begonnen hatte, einen logischen Zusammenhang mit all den merkwürdigen Puzzleteilen herstellte, die er inzwischen aufgeklaubt hatte und die ihn verwirrten und beunruhigten.
    Immerhin hatte ihm die Kommissarin von dem Zeugenanruf berichtet, und somit hatte sie ein Recht auf eine Gegenleistung. Außerdem bezahlte sie ihm sein Bier, wenn auch möglicherweise nur eines.
    Er erzählte ihr von Ilkas Analphabetismus, den Aussagen der Wirtsfrau und der Schwester, die beide die Schreib- und Leseschwächen bestätigt hatten. Er sei überzeugt, dass die Bedienung aus Angst vor dem Angebot der Brauerei, ihr das Lokal »Charly’s Tante« zu überschreiben, die Nerven verloren habe und abgehauen sei. Möglicherweise halte sie sich bei einem Mann namens Zeisig versteckt, jenem Mann, der ihn, Süden, in der Nacht in Ilkas Wohnung eingesperrt habe. Einem ehemaligen Schulfreund gegenüber habe Zeisig zugegeben, Ilka vor kurzem getroffen zu haben. Angeblich wolle er sie sogar heiraten.
    »Bitte?«, sagte die Kommissarin und bestellte bei der Bedienung, die gerade vorbeikam, noch ein Weißbier und ein Helles. »Er will sie heiraten? Die Frau, die er seit Jahrzehnten nicht gesehen hat? Das klingt nicht gut. Das klingt nach Gewalt und bösen Absichten.«
    »Aber Ilka Senner war vor zwei Tagen im Tierpark«, sagte Süden. »Offensichtlich unternahm sie einen Ausflug, und niemand hielt sie an einer Kette fest.« Den Besuch Zeisigs in der Kneipe verschwieg Süden vorerst. Er wollte damit vor allem verhindern, dass die Kripo das Wirtsehepaar aufscheuchte und seine Detektei unter einen Rechtfertigungsdruck geriet, falls seine Auftraggeber anfingen sich zu fragen, was eigentlich Süden in der Angelegenheit unternahm.
    Ebenso behielt er den Streit zwischen Charlotte Nickl und Ilka für sich. Seiner Einschätzung nach könnte diese letzte heftige Auseinandersetzung der eigentliche Auslöser für ihr Weggehen gewesen sein.
    »Falls die Zeugen sich nicht getäuscht haben«, sagte Birgit Hesse. »Falls Ilka wirklich am Sonntag im Zoo war, brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen. Und wenn dein Motiv zutrifft, dann muss sie selbst die Konsequenzen tragen. Ihre Furcht vor der Enttarnung kann ich gut verstehen, obwohl in Deutschland, glaub ich, ungefähr sieben Millionen Analphabeten leben. Man nennt sie funktionale Analphabeten, sie können die Buchstaben lesen, begreifen aber den Zusammenhang nicht. Das ist ein hartes Schicksal. Warum haben Ilkas Eltern das zugelassen?«
    »Ich wollte ihre Mutter danach fragen«, sagte Süden.
    »Und was sagt ihre Schwester?«
    »Die Kinder mussten zu Hause mitarbeiten, besonders das kleine Mädchen. Die Mutter nahm Ilka aus der Schule, nachdem der Vater gestorben war. Das fiel niemandem auf. Und sie kam damit durch, bis heute.«
    »Und jetzt kriegt sie ein tolles Angebot, nämlich eine eigene Kneipe zu führen, und bricht zusammen. Sie wird bald wieder da sein. Sie ist in München, vorausgesetzt, die Zeugen hatten keine Halluzination. Und bald wird sie einsehen, dass sie nicht vor sich selbst davonlaufen kann. Wer weiß, vielleicht zeigt die Brauerei Verständnis, und Ilka geht noch mal in die Schule und übernimmt die Kneipe erst in einem Jahr.«
    Die Kommissarin trank

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