Süden und das Lächeln des Windes
verschwunden.«
»Das ist nicht das erste Mal, müssen Sie wissen.« Ich sagte: »Ich weiß.«
»Gut.«
»Timo kommt zweimal in der Woche nach der Schule zu Ihnen. Dann ist vermutlich Ihre Frau zu Hause.«
»So ist es.«
»Kann ich sie sprechen?«
»Sie ist noch beim Sport. Sie macht Kickboxen, ganz hartes Training, anschließend gehen die Damen was trinken. Vor Mitternacht ist sie nicht zurück. Timo ist ein schwieriges Kind.«
Ich schwieg.
Osterwald setzte sich an den Tisch und kratzte sich am Auge. »Er ist launisch, er hat Aggressionen, dann wieder ist er ganz apathisch, die anderen Kinder haben Schwierigkeiten mit ihm, unser Felix auch.«
»Trotzdem sind die beiden gute Freunde«, sagte ich.
»Felix mag den Timo«, sagte Osterwald. »Felix ist eher… er ist eher ruhig, ein schüchternes Kind und Timo… Timo kann sehr bestimmt sein, sehr… selbstbewusst, sehr eigen… Felix gefällt das.«
»Wenn Timo nicht bei Ihnen ist, bei welcher Familie hält er sich sonst noch auf?«
»Das weiß ich nicht, das müssten Sie meine Frau fragen. Ich könnt versuchen, sie übers Handy zu erreichen.«
»Vielleicht später«, sagte ich. »Könnten Sie nachsehen, ob Ihr Sohn wirklich schon schläft?«
Osterwald stand auf und ging in den Flur. Kurz darauf kam er mit einem Jungen an der Hand zurück, der einen roten wollenen Schlafanzug anhatte und so verschlafen war, dass er schwankte.
»Er ist aufgewacht, als ich reinkam. Felix…«
Der Kopf des Jungen hing nach unten, seine Haare bildeten einen blonden Verhau und er wankte vor und zurück, wie ein Betrunkener.
»Der Mann ist von der Polizei, er möchte wissen, ob du Timo heut gesehen hast. Felix?« Etwas in Felix machte: »Hmm?«
Ich ging vor ihm in die Hocke. »Mein Name ist Tabor Süden. Hast du Timo heut gesehen? Oder gestern?«
»In der Schule«, sagte etwas in Felix, vielleicht der Nachtportier seiner Stimme.
»Heute in der Schule?«
»Nein, gestern.«
»Heute war Timo nicht in der Schule.«
Felix’ Kopf, der bleiern herunterzuhängen schien, schüttelte sich.
»Bist du dir ganz sicher, Felix?«
»Ja.«
»Und gestern, am Montag, war Timo aber in der Schule.«
»Ja.«
»Hat er gesagt, dass er was vorhat, weswegen er am nächsten Tag nicht kommen kann?« Mir taten die Knie weh, und es war mir peinlich, dass Felix vermutlich meine Fahne roch.
»Nei-ii-n.« Es war, als würde seine Stimme zäh wie Brei aus seinem Mund fließen.
»Wo könnte der Timo denn sein? Hast du eine Ahnung?«
»Nei-ii-n.«
»Hat er irgendwas getan, was du nicht verstanden hast? Was er vielleicht noch nie getan hat?«
»Nein«, sagte Felix. Dann machte er eine Pause und ich dachte, er schlafe auf der Stelle ein. »Aber die Sara hat ihn geschlagen.«
»Welche Sara?«, fragte ich sinnlos.
»Die Sara halt.«
»Sara Tiller«, sagte Osterwald, »sie wohnt auch am Falkenweg.«
»Sa-aa-ra«, sagte etwas in Felix. Es sah aus, als kippe er jeden Moment vornüber.
»Warum hat die Sara ihn geschlagen, Felix?«, fragte ich.
»Weiß ich nicht.« Er holte Luft. »Sie hat ihm ins Gesicht geschlagen und ist weggelaufen. Timo hat gesagt, das kriegt sie zurück.«
»Und das war das erste Mal, dass sie so was gemacht hat?«
»Jaa, die Sara war immer brav, sie hat ihn sogar mal an der Hand gehalten. Aber nicht lange. Nur zum Testen, glaub ich.«
»Danke, Felix«, sagte ich.
Ich stand so schwerfällig auf wie der Junge an der Hand seines Vaters zu seinem Bett zurücktaumelte.
»Ist Ihre Frau morgen früh zu Hause?«, fragte ich an der Tür.
»Ja«, sagte Osterwald, »sie ist den ganzen Tag da, eigentlich sollte Timo morgen wieder zu uns kommen.«
Sie stand direkt vor dem Fernseher und streckte mir den Arm entgegen. Auf ihrer flachen Hand lag eine mit gelbem Papier beklebte Schachtel.
»Die hab ich gesammelt«, sagte Susanne Berghoff. Ich nahm die Schachtel. Sie war angefüllt mit kleinen, matt glänzenden Kugeln, es mussten fast hundert sein.
»Damit schießt er auf mich«, sagte Susanne.
6
S ie kamen von zwei Seiten, die Frau mit der Wildlederjacke vom Bürgersteig her, der Mann mit den schwarzen Lederhandschuhen direkt aus dem Gebäude. Sie machten einen Schritt, blieben wie zufällig stehen, Kinder sprachen sie an, und sie erwiderten etwas, dann machten sie wie auf ein abgesprochenes Zeichen hin den nächsten Schritt, und jedes Mal, wenn mein Blick einen von ihnen streifte, drehten sie den Kopf, als würde ihr Verhalten dadurch weniger auffällig. Ich, ihr Objekt, bewegte
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