Süden und das verkehrte Kind
eine Art Schalterdienst für ihn bedeutet, der ihn zu den immer gleichen Handbewegungen und Erklärungen, Ermahnungen und Verhaltensweisen zwang, über die er von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr nachzudenken bräuchte. Er hätte seine Ruhe gehabt, und nur gelegentlich, vielleicht, wäre er für schnelle Momente aus der Haut gefahren und hätte seine Kollegen verblüfft. Getrunken hatte er schon als Jugendlicher, vermutlich nicht mehr als ich, und es hatte ihm nie geschadet, nicht gesundheitlich, nicht im Beruf. Bis vor einigen Monaten. Vor einigen Monaten war er zum ersten Mal nicht zum Dienst erschienen, weil er aus einer Nacht nicht mehr herausgefunden hatte. Und ich erfand eine Lüge für unseren Vorgesetzten. Volker Thon glaubte mir, zumindest tat er so.
Und nun, zu Beginn der Ermittlungen bei dieser unheilvollen Kindsvermissung, lag Martin wieder auf dem Boden, und ich würde wieder lügen müssen, und diesmal hatte ich eine Zeugin.
»Es ist eine Grippe«, sagte ich.
»Was sonst?«, sagte Freya.
»Danke.«
»Er tut mir Leid«, sagte sie. Ich schwieg.
»Er muss zum Arzt gehen«, sagte Freya. »Du musst ihn dazu bringen, dass er sich untersuchen lässt. Er sieht so… elendig aus.«
Nicht einmal in Handschellen und an den Füßen festgekettet würde sich Martin zu einem Arzt schleppen lassen.
»Ja«, sagte ich.
»Sollen wir nicht doch seine Eltern anrufen?«
»Nein«, sagte ich.
»Hoffentlich erfährt die Presse nichts davon.«
Bevor wir die Wohnung verließen, öffneten wir minutenlang sämtliche Fenster.
7
N ach dem aktuellen Ermittlungsstand sah es so aus, als wäre Nastassja Kolb vom Erdboden verschluckt worden. Obwohl es zu der Zeit, als sie ihr Elternhaus verließ – sofern die Aussagen ihrer Mutter zutrafen –, noch hell gewesen war, hatte anscheinend niemand in der Josephinenstraße das Mädchen gesehen. Einige Nachbarn meinten gegenüber meinen Kollegen, sie wären sich nicht sicher, viele Kinder hätten an diesem Nachmittag draußen gespielt, wie immer, und ob Nastassja eines von ihnen gewesen war, könnten sie nicht sagen. Inzwischen waren die ersten Reporter aufgetaucht, was dazu führte, dass die Anwohner auf der Prinz-Ludwigshöhe in für uns ungewohnter Einmütigkeit jeden Kontakt nach draußen verweigerten, einige jüngere Soko-Mitarbeiter stießen bei ihren Befragungen deshalb auf zeitraubenden Widerstand.
An den Fenstern im Haus Josephinenstraße waren nach wie vor die grünen Rollläden heruntergelassen, und auch in den direkt angrenzenden Gebäuden ließ sich niemand sehen, nicht einmal hinter den Gardinen. Unmittelbar bevor die ersten Fotografen ihre Bilder schossen, hatte Sonja den Eltern von Medy Kolb die Tür geöffnet. Sie waren aus der Innenstadt gekommen, wo sie unweit des Theresiengymnasiums wohnten, in dem Friedbert Hegel als Lehrer tätig gewesen und auf das auch seine Tochter gegangen war.
Doch den Großeltern gelang es so wenig wie Sonja Feyerabend, Fabian dazu zu bewegen, die Musik in seinem Zimmer abzustellen und einen Ton zu sagen. Wenn er auf die Toilette musste, setzte er sich seinen Walkman auf, senkte den Blick, verschwand wortlos im Bad und nach einer Viertelstunde wieder in seinem Zimmer. Friedbert Hegel schrie ihn zweimal an, und Fabian erschrak. Doch im nächsten Moment verfiel der Junge erneut in seinen offensichtlich erprobten lethargischen Zustand. Für Sonja bedeutete der Aufenthalt in der Wohnung eine Tortur, zumal sie von Thon keinen Kollegen an die Seite gestellt bekam, weil keiner frei war.
»Und du?«, sagte sie am Telefon.
Ich sagte: »Ich zerlege einen Zeugen.«
»Nimm Paul mit!«, sagte sie.
»Nein«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich ahnte, dass möglicherweise alles falsch sein würde, was ich von nun an tat.
Er trank Kaffee, hatte ein Sandwich gegessen und spülte den Mund mit Mineralwasser aus, als ich, gefolgt von Erika Haberl, den Raum betrat. Er hob den Kopf, schmatzte, schluckte das Wasser und lehnte sich zurück.
» Buon giorno «, sagte er und klebte seinen Blick auf mich. Für das Protokoll stellte ich ihm dieselben Fragen wie in der Camerloher Straße, er beantwortete sie weitgehend übereinstimmend. Inzwischen schien er Vergnügen daran zu finden, seine Sätze mit theatralischen Gesten zu unterwedeln.
»Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen, Herr Kolb?«, fragte ich.
»Vergessen«, sagte Torsten Kolb. »Ich hab viel zu tun, ich steh früh auf, komm spät nach Hause, schwierige
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