Süden und das verkehrte Kind
Bisher ohne Erfolg. Wo könnte sich Nastassja versteckt halten, vorausgesetzt, sie wurde nicht entführt?«
»Ich hab darüber nachgedacht. Und da fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Ich kenne ihren Körper, ich habe ihre Krankheiten behandelt, ich rede mit ihr, sie ist ein waches, intelligentes Kind. Ich weiß, in welchen Kindergarten sie geht, oder gegangen ist, sie ist ja nicht mehr dort. Aber sonst? Nein, ich weiß nicht, wo sie sein könnte. Wie geht es der Mutter?«
»Nicht gut, sie trinkt und nimmt Tabletten. Wann haben Sie Torsten Kolb zum letzten Mal gesehen?«
»Das ist lang her. Ich war mal auf Hausbesuch, als Nastassja Windpocken hatte. Vor einem Jahr ungefähr. Da war er da. Ich hab ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er zeigte wenig Interesse an seiner kranken Tochter.«
»Würden Sie Nastassja als trauriges Kind bezeichnen?«
»Wie kommen Sie denn darauf? Traurig? Nein. So hat sie noch nie auf mich gewirkt. Was meinen Sie genau mit traurig?«
»Könnte es sein, dass sie sich Ihnen gegenüber verstellt?«
Anmerkung: Die Zeugin zögert mit der Antwort.
»Nein. Sie verstellt sich nicht. Nein.« Vernehmungsende: vierzehn Uhr vierzig.
Als ich Torsten Kolb in das kleine Zimmer im zweiten Stock bringen wollte, rief Oberkommissarin Freya Epp an.
»Ich hör drinnen Musik, aber er macht nicht auf«, sagte sie.
Ich sagte: »Ich komme sofort hin.«
Ohne eine weitere Erklärung bat ich Paul Weber, noch eine Weile auf Kolb aufzupassen, und rannte die Treppe hinunter zum Hof, wo unsere Dienstwagen standen. Den Zweitschlüssel zu Martin Heuers Wohnung trug ich immer bei mir.
6
» R ühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an…«
Ich rührte ihn nicht an. Von der Wohnungstür bis ins Wohnzimmer, wo er auf dem Boden lag, mit dem Gesicht nach unten, die Arme von sich gestreckt, führte eine Schlangenlinie ungerauchter, filterloser Zigaretten, mindestens fünfzig Stück.
»Das ist die Erde«, hörte ich Martin Heuer sagen, das Gesicht auf den grauen Auslegeteppich gepresst. Zwischen den Sätzen drehte er den Kopf und schnaufte wie ein Sportschwimmer beim Wettbewerb, er hob die Augen, und ich, der neben ihm kniete, sah die eingefallenen grauen Wangen und den Speichel, der aus seinem Mund tropfte. Er hatte seine alte Daunenjacke angezogen und den Reißverschluss bis zum Kinn geschlossen. Trotzdem zitterte er am ganzen Körper. Und da er die Beine aneinander drückte, berührten sich die Absätze seiner Schuhe und verursachten durch das Zucken der Füße ein klackendes Geräusch, das Freya, die bei Martins Anblick erschrocken zum runden Tisch in der Fensternische zurückgewichen war, nur ertrug, indem sie sich immer wieder die Ohren zuhielt. So verstand sie nur wenig von dem, was er stammelte, und das erleichterte mich ein wenig. Denn Martin redete zu niemandem, nicht einmal zu mir oder sich selbst, die Worte rannen aus seinem Mund wie sein Speichel, es war, als würde sich seine Seele erbrechen, als wäre ihm mit jedem Wort, mit jeder Bewegung seines Kopfes das Ringen nach Luft gleichgültiger, als wolle er mit dem Mund einen Tunnel in ein schäbiges fusseliges Leben graben und so lange durchhalten, bis er vollkommen darin verschwunden war, von seinem Atem verachtet, endlich am Ziel, endlich von sich selbst vergessen.
»Das ist die Erde, und du bist nicht mal ein Krümel. Die Frau, die trinkt, die weiß alles, aber wir sind auf der anderen Seite. Wir sind immer auf der anderen Seite. Immer da, wo die anderen nicht sind, wo nur wir sind.
Rühr mich bloß nicht an! Ich sitz bei der Frau, die trinkt, und ich trink mit, ich trink mit, ich sitz und trink. Sitz und trink. Und sterb. Sterb schön. Du bist für die Lebenden, nichts mehr mit Mord, nichts mehr mit Leichen. Du hast das doch gehabt, du warst doch da, da. Du darfst das nicht vergessen. Weil, das zeigt, das beweist was. Das beweist, Sterben, schau, schau hin, geht. Das geht. Du hast doch das gesehen, du hast die Hände in die Hosentaschen gesteckt, aus Gewohnheit. Steht einer zu Füßen einer Leiche. Und denkt wahrscheinlich an die Welt draußen. Denkt und denkt, und die Leiche ist gerettet.
Du hast einen Freund, einen Freund, der hat eine Freundin und ein Leben, der redet nicht viel, du hast den Freund, du hättst den Freund im Notfall. Du kennst den, du hast ihm gesagt, wir machen jetzt Polizei. Prüfung geschafft, Polizei gemacht. Du wärst in der Uniform geblieben, dein
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