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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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das Trinken auch. Das stimmt.
    Das stimmt. Ich hab das ausgehalten, das Zusehen, das kannst du. Du musst nicht mittrinken. Nein. Ich geh jetzt. Die Vernehmung ist jetzt aus.«
    Martin drehte sich von mir weg. Die Absätze seiner Schuhe stießen noch immer klackend aneinander. Er vergrub den Kopf unter den Armen, die Daunenjacke raschelte, so stark vibrierte sein Körper.
    Auf ein leises Klirren hin wandte ich mich um. Mit zwei leeren Wodkaflaschen in den Händen stand Freya Epp vor der Küchentür, entsetzt und mitleidvoll zugleich, in Erwartung einer Erklärung. Ich stand auf, betrachtete meinen reglos daliegenden Freund, nahm Freya die Flaschen aus der Hand und stellte sie in die Küche, die ähnlich aufgeräumt und unbenutzt aussah wie die in Kolbs Appartement.
    »Schläft er?«, fragte Freya leise und mit großen, noch immer von Schrecken geweiteten Augen hinter der Brille mit dem roten Gestell.
    Das laute Klingeln des Telefons ersparte mir eine Antwort. Ich nahm den Hörer ab.
    »Ich bin es«, sagte Sonja Feyerabend. »Medy Kolb ist kollabiert.«
    Der Notarzt brachte die Frau ins Klinikum Großhadern, wo ihr der Magen ausgepumpt wurde und sie mehrere Spritzen bekam. Von Sonja unbemerkt, hatte sie im Badezimmer heimlich weiter getrunken und gleichzeitig Schlaftabletten genommen. Erst als sie keine Luft mehr bekam und zusammensackte, begriff Sonja die Situation. Offenbar war es Medy Kolb gelungen, sie derart zu täuschen, dass Sonja sich weiter mit Fabian beschäftigte, von dem sie hoffte, er würde endlich sagen, wo er die halbe Nacht lang gesteckt hatte. Alles, was er sagte, war:
    »Ich habe nach meiner Schwester gesucht.«
    Nachdem Freya Epp und ich Martin ins Bett getragen, ihn entkleidet und zugedeckt hatten, warteten wir noch eine Zeit lang. Er schien eingeschlafen zu sein. Aus all den Jahren wusste ich, wie viel er vertrug, und es war, was ich Freya nicht erzählte, auch nicht das erste Mal, dass ich ihn desolat am Boden liegen sah. Bevor er zusammengebrochen war, hatte er diese Spur aus Zigaretten gelegt, und bestimmt würde er, wenn er aufwachte, keine Ahnung haben, was er damit hatte ausdrücken wollen.
    »Hat er keine Verwandten?«, sagte Freya. »Jemand muss doch bei ihm bleiben.«
    Martin Heuers Eltern lebten in Taging, in dem Dorf, wo wir beide aufgewachsen waren und wo das Grab meiner Mutter war. Er besuchte seine Eltern selten, zweimal im Jahr, und dann nur kurz und pflichtschuldig. Nicht, dass er mit ihnen zerstritten gewesen wäre, sie hatten sich nichts zu sagen, weder er ihnen noch sie ihm. Sein Vater hatte auf einer Bank gearbeitet, ohne jeden Ehrgeiz, eines Tages wenigstens Filialleiter zu werden, seine Mutter hatte ein Studium als Pharmazeutin absolviert und später eine Halbtagsstelle in einer Taginger Apotheke, bevor sie sich ausschließlich Martins Erziehung widmete. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er je einen harten Streit mit seinen Eltern gehabt hätte, er war ein nachgiebiger Junge, der am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte.
    Wenn er sich über etwas ärgerte, wobei man dann nie genau wusste, worüber, neigte er zu Überreaktionen, aggressivem Verhalten und Sturschädeligkeit. Von unserem ersten Lebensjahr an wohnten wir in derselben Straße, einander schräg gegenüber, zwischen unseren Häusern befand sich ein Schuppen für Schweine, Hühner und landwirtschaftliche Geräte, der zum Bauernhof auf der anderen Seite der Wiese gehörte. Nach der Grundschule besuchten wir das Gymnasium in der Kreisstadt, und kurz vor dem Abitur, in einem Anfall euphorischer Ratlosigkeit, was unsere Zukunft betraf, schlug Martin vor, Polizist zu werden. Er besorgte die Unterlagen, wir füllten sie aus und vergaßen sie. Einen Monat später erhielten wir die Einladung zu einem Vorgespräch.
    Martin hätte wie sein Vater Bankangestellter werden und ich studieren und vielleicht Lehrer werden sollen, denn Beamte hatten nach Meinung meiner Mutter ein gesichertes Leben. Nach ihrem Tod endete meine Vorstellung von einem gesicherten Leben für alle Zeit, obwohl ich tatsächlich Beamter wurde.
    Martin, so glaube ich heute, hatte nie ein gesichertes Leben erwartet, auch nicht im Staatsdienst, in den er übermütig eintrat, dazu bereit, die Uniform nie wieder auszuziehen. Vielleicht hatte ich einen Fehler begangen, als ich ihn überredete, in den gehobenen Dienst zu wechseln, vielleicht hätte er sich in seiner Uniform, bei seinem Streifendienst besser aufgehoben gefühlt, vielleicht hätte diese Arbeit

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