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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Süden verlässt den Raum. Der Zeuge grinst. Er stellt der Protokollantin eine Frage, auf welche sie erwidert, sie sei nicht befugt, mit dem Zeugen zu sprechen. Der Zeuge nickt, starrt mit ernster Miene auf den Tisch. Er macht den Eindruck, als denke er angestrengt über etwas nach.
    »Dann erkläre mir, warum er noch hier ist«, sagte ich.
    »Bitte?«
    »Wenn er nichts zu verbergen hätte, wäre er längst gegangen«, sagte ich.
    Volker Thon trug ein dunkelblaues Halstuch zum ockerfarbenen Hemd, dazu eine perfekt sitzende Hose in beinah derselben Farbe wie das Tuch. Er verströmte den Geruch nach gutem Rasierwasser, und wenn er sich mit dem Zeigefinger am Hals kratzte oder an seinem Kragen nestelte, wirkte er gerade in Phasen angespannter Hektik und im Kreis seiner durchschnittlich bis nachlässig gekleideten Kollegen wie ein Pfau, der sich verlaufen hatte. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er der jüngste Abteilungsleiter im Bereich des Polizeipräsidiums München und einer der wenigen Kriminalisten, die verheiratet waren und zwei Kinder hatten und der sich gleichermaßen als Familienmensch wie als unermüdlicher, erfolgsorientierter Ermittler verstand. Vielleicht konnte man sein Leben nicht unbedingt als gesichert bezeichnen, aber es war auf eine Weise geordnet – vor allem nach seiner eigenen Definition –, um die ich ihn manchmal beneidete. Und dieser Neid versetzte mich dann in einen Zustand von unausgegorener Wut, die ich nur durch gastronomische Aushäusigkeit und bodenloses Schweigen wieder los wurde. Für Martin Heuer verkörperte Thon den Inbegriff eines geglückten Menschen. Diese Einschätzung fand ich übertrieben. Bis zu jenem Tag, an dem ich begriff, wie dumm es von mir gewesen war, Martin für solche und ähnliche Äußerungen zu belächeln, als wäre es nicht vielmehr meine Pflicht gewesen, bedingungslos Freund zu sein.
    »Soll ich jetzt raufgehen und mich für dich entschuldigen?«, sagte Thon.
    »Du musst kurz mit ihm sprechen.«
    »Was ist mit Martin? Wieso ist der plötzlich krank? Wieso führt ihr die Vernehmung nicht zusammen?«
    Selten geriet Thon so unter Stress wie in der Anfangsphase von Fällen, bei denen Kinder vermisst wurden. Er neigte dann sogar dazu, wenn er sich unbeobachtet fühlte, zu Hause anzurufen und ein paar Worte mit seinem fünfjährigen Sohn oder seiner neunjährigen Tochter zu wechseln, nur, wie ich vermutete, um sich zu versichern, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wurde ich zufällig Zeuge dieser Gespräche, kam es mir vor, als halte jemand ein Vergrößerungsglas über meine Einsamkeit.
    »Der Grippeanfall hat ihn heute Nacht erwischt«, sagte ich.
    »Und wie lange dauert der Anfall?«, sagte Thon. »Ich hab schon genug Ausfälle. Wenn wir das Mädchen übers Wochenende nicht finden und die Soko erweitern müssen, brauch ich Kollegen von anderen Dezernaten, die werden sich bedanken.«
    »Vielleicht ist er morgen wieder fit.«
    »Wenn der Vater lügt, dann sags ihm ins Gesicht! Du weißt, wie manche Leute darauf reagieren.«
    »Dieser Mann nicht«, sagte ich.
    Wir waren auf dem Weg in den zweiten Stock. Aus den Büros drangen das schrille Klingeln der Telefone und eine Endlosschleife von Stimmen. Im Zusammenhang mit allen übrigen bis zur Stunde mehr oder weniger unaufklärbaren Fragen der Journalisten gehörte die nach dem seelischen Zustand und Aufenthaltsort der Eltern zu den gefährlichsten. Was die Mutter betraf, so lautete die offizielle Version, sie habe einen Schwächeanfall erlitten und stehe unter ärztlicher Beobachtung. Auf die Frage, ob sie sich zu Hause aufhalte, hatte Thon in der Pressekonferenz mit Nein antworten müssen, da es – ähnlich wie in einer Zeugen oder Tätervernehmung – das schlechtestmögliche Licht auf ihn und sein Team geworfen hätte, wenn er später der Lüge überführt worden wäre. Um welches Krankenhaus es sich handelte, hatte er nicht gesagt.
    »Du hast meine Frage, warum er noch hier ist, noch nicht beantwortet«, sagte ich vor der geschlossenen Tür des Vernehmungszimmers.
    »Womöglich ist er ein Wichtigtuer«, sagte Thon.
    »Der eigene Vater?«
    »Fängst du an, Dinge auszuschließen?«
    Ich schwieg. Natürlich schloss ich alles andere aus, sowohl dass Medy Kolb etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben könnte als auch ihr Sohn, für mich zählte nur der Ehemann, er war die Schlüsselfigur, er war der Hauptlügner.
    »Nein«, sagte ich und öffnete die Tür.
    Erika Haberl steckte das

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