Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
wie die übrigen Phantommusiker zur Vernehmung ins »Substanz« schickte, war es Martin gelungen, vom vollkommen verschlafenen Ingo Knightfish Zoll noch ein paar halbwegs klare Antworten zu bekommen.
    MH: »Und er hat in Oula nie irgendetwas über München gesagt?«
    Ingo: »Oulu, die Stadt heißt Oulu. Nokia, die arbeiten alle bei Nokia.«
    MH: »München, Knightfish, hat The Vagabond München erwähnt?« Ingo: »Nein.«
    MH: »Wie ist dein Eindruck vom Vagabond? Was, würdest du sagen, ist der für ein Typ?«
    Ingo: »Sehr guter Typ. Er wird das Rennen machen, Mann, er haut uns alle weg, dich auch, Mann, sorry, dass ich so direkt sein muss.«
    MH: »Aber was ist der für ein Charakter? Beschreib ihn mal!«
    Ingo: »Wie spät? Der ist okay, er ist ein Freak, obwohl er schon so alt ist, nimms nicht persönlich, Mann! Er ist okay, wir werden alle alt, wenn nichts dazwischen kommt. Ein Luftkrieg oder so.«
    MH: »Was für ein Luftkrieg?«
    Ingo: »Ein Luftkrieg aus der Luft. Dann sind wir fertig, da ist dann Sense mit Altwerden, da musst du auf die Wiedergeburt warten.«
    MH: »Glaubst du an Wiedergeburt?«
    Ingo: »Ich bin eine Wiedergeburt, Mann! Ich war Jimi Hendrix in meinem früheren Leben. Oder Eric Clapton.«
    MH: »Der lebt noch.«
    Ingo: »Echt? Scheiße, Mann, sorry.«
    MH: »Wovon hat The Vagabond in Oulu gesprochen? Hat er von seiner Arbeit als Architekt erzählt?«
    Ingo: »Ist lang her, Mann. Ich bin müde. Er wollt weg, glaub ich, ich glaub, der hatte die Schnauze voll, von allem, er hat nichts Bestimmtes gesagt, glaub ich, er hat bloß gesoffen und war depressiv, superdepressiv war der.«
    MH: »Und er hat keine Andeutung gemacht, warum er deprimiert ist?«
    Ingo: »Kann ich mich nicht erinnern, ich hab auch gesoffen, er hat mich eingeladen, er hat Geld gehabt, ich glaub, er hat gesagt, er packts nicht mehr, er packts nicht mehr und wills auch nicht mehr packen.«
    MH: »Was hat er nicht mehr gepackt?«
    Ingo: »Alles. Wieso ist der verschwunden? Was ist mit dem?«
    MH: »Hattest du den Eindruck, er will sich was antun?« Ingo: »Klingt gut: sich was antun. Du meinst, ob ich glaub, dass er sich ins Meer stürzen wollt oder sich an einem Tannenbaum aufhängen da oben?« MH: »So was meine ich.«
    Ingo: »Glaub ich nicht. Weiß ich nicht. Glaub ich nicht.«
    »Ich halt es für möglich«, sagte Martin Heuer bei unserer Besprechung in Thons Büro. »Wir können es zumindest nicht ausschließen.«
    »The Vagabond«, sagte Thon. »Habt ihr alle solche Namen?«
    »Ja.«
    Thon wartete auf Martins Erklärung.
    »The Jeepster. Das ist mein Bühnenname.«
    »Was soll das bedeuten?«, sagte Thon. »Bist du der Billigste?«
    »Jeepster von Jeep«, sagte Martin. Sonja schüttelte den Kopf.
    »Was ist denn das Besondere am Luftgitarrespielen?«, sagte Paul Weber. »Sei mir nicht böse, aber ich hab keine Lust, in solche Kneipen zu gehen. Außerdem hab ich dich ja auf der Weihnachtsfeier spielen sehen.«
    »Bin gleich wieder da«, sagte Sonja Feyerabend und verließ das Büro.
    »Das Besondere«, sagte Martin, »ist, man muss sich nicht verstellen. Obwohl alle Blicke auf dich gerichtet sind, bist du ganz in deinem Element, du vergisst, dass es noch eine andere Welt gibt, die Wirklichkeit ändert sich.«
    Niemand sagte etwas. Nie zuvor hatte Martin Heuer in diesen Räumen solche Dinge von sich gegeben. Er machte seine Arbeit und verschwand, und wenn er zu viel getrunken hatte, signalisierte er am nächsten Morgen mit einem einzigen Blick die totale Unansprechbarkeit, und jeder, der ihn kannte, respektierte seine Stimmung. Jetzt unterstrich er mit ruckartigen Handbewegungen seine Leidenschaft für ein Hobby, das ihn gerade in diesen Tagen, in denen die deutschen Champions in der Stadt auftraten und er mit ihnen heftig konkurrierte, in eine Form von Euphorie zu versetzen schien, die mir bisher verborgen geblieben war. Auf seinem hageren Gesicht mit der geröteten Knollennase und den fast schwarzen Tränensäcken lag eine glänzende Schicht, die seine Haut weniger grau und alt aussehen ließ. Die spärlichen Haare waren nicht wie üblich zu einem Kranz geformt, sondern standen kurios ab, und in seinen Augen glaubte ich ein schalkhaftes Sprühen zu erkennen, Signale unbändiger Freude. Sogar Volker Thon hörte ihm verblüfft zu.
    »Du streifst deine falsche Haut ab, deine Erwachsenenhaut, wenn du willst. Du bist ein Kind, und niemand stört sich daran, im Gegenteil, je kindischer du wirst, umso besser für dein Spiel, für

Weitere Kostenlose Bücher