Süden und der Luftgitarrist
mehr als siebentausend Menschen, die Hälfte von ihnen waren Erwachsene und Jugendliche zwischen dreizehn und siebzehn, allein in München bearbeiteten wir pro Jahr rund eintausendfünfhundert Vermissungen, von denen kaum eine unaufgeklärt blieb. Fanden wir die Leiche einer verschwundenen Person, dann stellte sich in den meisten Fällen als Todesursache Selbstmord und in den wenigsten Fällen ein Verbrechen heraus. In den zwölf Jahren meiner Tätigkeit in der Vermisstenstelle des Dezernats 11 veränderte sich diese Statistik nur unwesentlich. Einige jugendliche Streuner oder Dauerläufer begleiteten mich über Jahre, das heißt, eigentlich begleitete ich sie auf den verschlungenen Pfaden im Dschungel ihrer Gegenwart, die sich aus irgendeinem Grund nie in eine einigermaßen lichte Zukunft verwandelte. Ich kannte ihre Geschichten und Lügen ebenso wie die von Erwachsenen, die erzählten, sie hätten nicht die geringste Ahnung, warum ihr Mann oder ihre Frau oder ihr Bruder von einem Tag auf den anderen untergetaucht sei und ihnen diese Schmach angetan habe, denn nun wären sie gezwungen, vor der Polizei intime Details aus ihrem Privatleben auszubreiten, die niemanden etwas angingen. Den wahren Grund einer Vermissung erfuhren wir oft erst viel später, wenn der Verschwundene zurückgekehrt war und sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit uns anvertraute. Was viele Angehörige nicht begriffen war, dass ihr Verwandter oder Bekannter keinesfalls leichtfertig oder übermütig seine Entscheidung getroffen, sondern dass er aus einer extremen inneren Not heraus gehandelt hatte und seine Vorstellung, die gewohnte Wirklichkeit durch eine andere, unbekannte zu ersetzen, ihn eher quälte als beflügelte. Außerdem war Weggehen kein Vergehen. Natürlich hatten die Angehörigen das Recht, Anzeige zu erstatten, und wir versicherten ihnen, alle wichtigen Maßnahmen zu ergreifen, und wir stellten die Daten auch ins System, doch nicht selten warteten wir dann einfach ab, vor allem, wenn es nicht die geringsten Anhaltspunkte für eine Straftat oder einen Selbstmord gab. Und nur bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben handelte es sich um einen Fall, für den wir zuständig waren. Ungezählte Male im Jahr tippten wir also nach drei Tagen einen Vermisstenwiderruf und fügten der Statistik eine weitere Zahl hinzu.
Andererseits lernte jeder Kommissar, der neu in unserem Dezernat anfing, eine Grundregel: Bei keiner Vermissung kann eine spätere Totauffindung ausgeschlossen werden. Egal, wie gewöhnlich und banal die Umstände auf den ersten Blick wirken mochten, das Risiko, eine winzige Spur zu übersehen oder das Geheimnis einer Lüge zu überhören, bestand jedes Mal auf die gleiche Weise. Und deshalb log ich, als ich auf die Frage von Mildred Loos, ob jemand, der ein Jahr lang verschwunden war, tot sei, antwortete: »Vielleicht.«
Wenn jemand ohne Erklärung, ohne Abschied, ohne die leiseste Ankündigung sein Haus verließ und ein ganzes Jahr lang keinen Kontakt zu seinen engsten Bekannten, seinen Mitbewohnern aufnahm und noch dazu kein Geld besaß, um sich ein Abenteuer in der Welt leisten zu können, musste ich davon ausgehen, dass wir seine Leiche früher oder später über die Datei der unbekannten Toten identifizieren würden.
»Ich bin es«, sagte ich ins Autotelefon. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Dienstlich?«, sagte Sonja.
Keine der aktuellen Beschreibungen aus dem INPOL- System passte auf Aladin Toulouse. Damit erweiterte der ehemalige Fußballprofi unsere Statistik um ein Kuriosum: Wer länger als drei Monate verschwunden war, galt normalerweise als Langzeitvermisster. Das traf, falls die Aussage seines Mitbewohners Distel der Wahrheit entsprach, auf Toulouse zwar einerseits zu, andererseits war Aladin aber bis zu diesem dreizehnten Februar von niemandem offiziell als vermisst gemeldet worden. Außerdem konnten wir nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass das Verschwinden der beiden Halbbrüder in einem Zusammenhang stand, immerhin war Edward erst seit einer Nacht und einem halben Tag unauffindbar.
»Gibts eine Spur im Fall Vanessa Wegener?«, fragte Martin. Wir fuhren über die Landshuter Allee zum Stadtteil Lerchenau im Norden Münchens.
»Anke schweigt«, sagte ich. Sonja hatte mir von der Sturheit erzählt, mit der die Freundin der Verschwundenen auf sämtliche Fragen reagierte. Das Mädchen weigerte sich, ohne ihre Eltern, die ins Dezernat mitgekommen waren, einen einzigen Satz zu sprechen, und
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