Süden und der Luftgitarrist
Martin. »An welchem Tag?«
»Spinnst du?« Mit einer unerwarteten Drehung ging Distel zum Tisch und stützte sich mit beiden Händen darauf ab. »Ich merk mir das doch nicht! Brauch ich ein Alibi oder was? Das ist ewig her! Ewig ist das her!«
»An welchem Tag genau?«, sagte Martin. Als Distel sich über den Tisch beugte, sah ich, dass er seine Geldbörse, die in der Gesäßtasche steckte, mit einer Kette an einer Gürtelschlaufe befestigt hatte.
»Im Frühling«, sagte Sibylle.
»Wann genau?«, sagte ich.
»Im März. Oder im April.«
»Wann genau?«
»Du nervst«, sagte sie.
»Wann genau?«
»Im März.«
»Sicher?«
»Ja.« Sie stieg von der Couch, stellte sich hin, strich sich den Rock glatt und ging zur Tür, an mir vorbei. Dann blieb sie stehen. »Außerdem war er zwischendurch noch mal da.«
Distel fuhr herum. »Was? Wann? Wieso hast du mir das nicht gesagt? Wieso nicht? Wieso?«
»Reg dich bloß nicht auf! Das ist dir doch egal, was mit dem ist!«
Distel stürzte auf sie zu und packte sie an der Schulter. Ich schob ihn beiseite, und als er mit einer Hand ausholte, machte ich einen Schritt in seine Richtung, was ihn derart erschreckte, dass ihm fast die Lider abfielen, so stark musste er blinzeln.
»Setzen Sie sich auf die Couch«, sagte ich. Nach einer Denkpause folgte er meiner Aufforderung.
»Wann war Aladin hier?«, fragte ich Sibylle.
»Irgendwann im Sommer«, sagte sie. »Rick war nicht da. Ich hab oben geschlafen, ich bin aufgewacht, weil ich was gehört hab, ich hab gedacht, er ist es.« Sie nickte zur Couch hin. »Ich bin ganz schön erschrocken, mit Aladin hab ich nicht gerechnet. Er hat Sachen zum Anziehen geholt, er hatte eine Tasche dabei, seine Sporttasche, die hat er früher schon gehabt, mit dem FC-Bayern-Emblem drauf. Ich hab ihn gefragt, wieso er abgehauen ist, er hat gesagt, er hat sich geschämt, er würd jetzt woanders wohnen, incognito.«
»Incognito«, sagte ich.
Sie nickte, spielte mit der Zunge, blickte zur Haustür. Wir schwiegen.
»Incognito«, murmelte Distel.
»Und danach haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«
»Nein«, sagte Sibylle. »Er hat uns hier wohnen lassen , wir sind gut miteinander ausgekommen zu dritt. Rick musste bei sich ausziehen, und ich hab noch bei meiner Mutter gewohnt, die hat eine Altbauwohnung in der Hohenzollernstraße, ich hab keine Miete bezahlt. Aber hier ist es besser.«
»Wie lange wohnen Sie schon hier?«, fragte ich.
»Zweieinhalb Jahre ungefähr«, sagte sie. Ich zog die beiden Fotos, die ich von Mildred Loos mitgenommen hatte, aus der Tasche und zeigte sie Sibylle.
»Scharf!«, sagte sie. »Da sieht er echt scharf drauf aus, der Aladin. Von wann ist das?«
»Da war er ungefähr zwanzig«, sagte ich.
»Scheißspiel«, sagte sie und klopfte mit ihrem schwarz lackierten Zeigefingernagel auf das Bild.
»Kennen Sie den anderen Mann?«
»Der war diese Woche hier«, sagte sie.
»Wann?«
»Anfang der Woche. Am Dienstag.«
»Wieso weiß ich das nicht?«, sagte Distel laut und wippte im Sitzen mit den Knien.
»Weil du da bei einem…« Sie betonte das Wort abfällig »… Vorstellungsgespräch warst, in der Früh um neun!« Distel sprang auf. »Pass auf!«
»Setzen Sie sich bitte«, sagte ich.
Er blieb stehen, und wieder klebte sein Blick auf mir. Ich schwieg, bis Distel wieder saß.
»Er hat gesagt, er ist der Bruder und er will Aladin sprechen. Da hab ich ihm gesagt, dass Aladin untergetaucht ist.«
»Haben Sie ihm von Ihrer Begegnung mit Aladin im Sommer erzählt?«
»Ja. Er hat mich auch gefragt, wo er sein könnte. Jetzt hab ich seinen Namen vergessen.«
»Edward Loos«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie. »Ich hab gesagt, er solls halt mal bei Aladins Ex versuchen. Der Typ war ziemlich schockiert darüber, dass sein Bruder verschwunden ist. Zuerst hat er gedacht, ich verarsch ihn.«
»Warum?«
»Er hat gesagt, sein Bruder hätt nie eine Andeutung gemacht.«
»Wann hätte Aladin eine Andeutung machen sollen?«
»Weiß ich doch nicht!« Sie sah mich eindringlich an.
»Was ist?«, sagte ich.
»Nichts ist.«
»Hatten die beiden Kontakt?«, sagte ich.
»Er hat mir gesagt, sie haben im letzten Jahr öfter telefoniert. Regelmäßig, hat er gesagt. Genau. Regelmäßig.«
»Die beiden haben regelmäßig miteinander telefoniert«, sagte ich und schaute mindestens so konsterniert drein wie Martin. Dann war ich ziemlich lange sprachlos.
»Hallo?«, sagte Sibylle. »Gibts Probleme?«
6
I n einem Zustand brodelnder
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