Süden und der Luftgitarrist
ihn nicht nach ihr gefragt, einmal machte er eine Andeutung, das genügte. Sie gab Interviews in den Zeitungen, sie war an einem neuen Star dran. Heute ist sie mit einem Trainer verlobt, den Namen weiß ich nicht.« Sie sah erst mich, dann Martin an. »Was bedeutet das, er ist seit einem Jahr nicht nach Hause gekommen? Werden Sie ihn jetzt auch suchen? Wie Edward?«
»Vielleicht«, sagte ich. »Haben Sie ein Foto von ihm?«
Mit einem Griff zog sie ein Bild aus einer Schreibtischschublade.
»Darauf ist er Anfang zwanzig«, sagte sie. »Bevor die Katastrophen anfingen.«
Die Aufnahme war in einem Studio gemacht worden, Aladin hatte halblange schwarze Haare und ein schmales Gesicht, das dem seiner Mutter glich, in seinen dunklen Augen lagen die Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit eines jungen Mannes, den die Zukunft nicht einschüchtert, kein Anflug von Lächeln, wie bei seiner Mutter, bestimmt hielten ihn manche seiner Mitspieler für unnahbar und humorlos.
»Haben Sie auch ein Bild von Edward?«, fragte ich, obwohl wir sicher eine aktuelle Aufnahme von einem der Reporter bekommen konnten, die am Eröffnungsabend im »Substanz« fotografiert hatten.
»Keines aus den letzten Jahren«, sagte Mildred Loos.
»Das Foto von Aladin hab ich neulich zufällig entdeckt, ich wollte es ins Album kleben, bin aber noch nicht dazu gekommen. Ich hole eines aus dem Album.«
»Möchten Sie, dass wir eine Vermisstenanzeige für Edward und Aladin aufnehmen?«, fragte Martin.
»Ich weiß nicht«, sagte Mildred Loos. Dann ging sie ins Schlafzimmer, wo sie die Fotoalben aufbewahrte. Es war schwierig, meinen Magen unter Kontrolle zu halten. Manchmal glaubte ich, er besäße ein spezielles Knurrorgan. Martin hielt mir sein Wasserglas hin, das ich ablehnte. Was uns beide gleichzeitig beschäftigte, ohne dass wir darüber sprechen mussten, und was uns noch mehr beunruhigte als das Verschwinden von Edward Loos waren die Lebensumstände von dessen Halbbruder. Wie es aussah, war Aladin Toulouse ein ganzes Jahr lang von niemandem vermisst worden, nicht einmal von seiner Mutter. Also mussten wir so schnell wie möglich die VERMI/UTOT-Datei des Bundeskriminalamtes überprüfen, um die Beschreibung des ehemaligen Fußballspielers mit der von unbekannten Toten zu vergleichen, eine Maßnahme, die wir bei fast jeder Vermissung ergriffen.
»Hilft Ihnen das?«
Mildred Loos gab mir ein Farbfoto, auf dem ein Mann mit blonden längeren Haaren, hellen Augen und weichen Gesichtszügen zu sehen war, der auf einem Balkon stand und angespannt dreinschaute. »Er hat sich nie gern knipsen lassen, schon als Kind nicht, wie Aladin. Ihre Väter übrigens auch nicht. Ich hatte nie was dagegen, fotografiert zu werden. Das wäre bei meinem Beruf auch merkwürdig.«
»Hatte Edward, als er noch in München lebte, einen Lieblingsplatz?«, fragte Martin. »An der Isar, ein bestimmtes Lokal, einen Park?«
»Hat er außer Ihnen noch jemand anderen in dieser Woche besucht?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Mildred Loos. »Er hat mir nichts gesagt. Ja, an der Isar waren wir oft, wer nicht? Das ist lang her. Edward ist mit Anfang zwanzig nach Frankfurt umgezogen, er wollte woanders hin. Die ganze Stadt war nicht sein Lieblingsplatz. Ich hab plötzlich Angst, um alle beide. Vermisstenanzeige. Sie haben mich gefragt, ob ich Edward vermisst hab. Und Aladin? Ich hab respektiert, dass er für sich sein wollte, dass er sein Leben wieder selbst in den Griff kriegen wollte. Entschuldigen Sie.«
Sie setzte sich auf den hölzernen Drehstuhl am Schreibtisch, und eine tiefe Falte grub sich in ihre Stirn. Dann stutzte sie plötzlich.
»Woher wissen Sie eigentlich, dass Edward verschwunden ist?«, sagte sie. »Hat denn schon jemand eine Vermisstenanzeige gemacht?«
»Nein«, sagte Martin. »Ich weiß es, weil ich mit ihm zusammen an dem Wettbewerb teilnehm. Ich spiel auch Luftgitarre.«
»Sie?« Für einen Moment dachte ich, sie würde lachen.
»Sie spielen Luftgitarre?« Sie wandte sich zu mir. »Und Sie? Sie auch?«
»Ich nicht«, sagte ich. »Ich trommele manchmal, auf richtigen Trommeln.«
»Sie machen also richtigen Krach«, sagte sie und drehte sich auf dem Stuhl zum Tisch. Niemand sagte etwas, eine lange Zeit. Dann, ohne sich zu bewegen, sagte Mildred Loos. »Ich möchte meine Söhne Edward und Aladin als vermisst melden.« Und, zögernd, mit verschwommener Stimme: »Ist jemand, der ein Jahr lang spurlos verschwunden ist, tot?«
5
J edes Jahr verschwanden in Bayern
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