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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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bestimmt die saubersten von ganz München, so oft wurden sie ausgespült. Dann hat es geheißen, eine Infektionskrankheit sei nicht richtig ausgeheilt, Mumps wahrscheinlich. Ich musste Medikamente nehmen, die haben geholfen. Als ich meine Einstellungsuntersuchung bei der Bank hatte und dem Arzt von meinem Ohrenproblem erzählte, hat er mich an einen Spezialisten überwiesen, meinte aber, ich solle mir keine Sorgen machen. Zum Glück wurde ich eingestellt, bevor die Untersuchungen begannen. Wie sich herausgestellt hat, leide ich unter der Menièreschen Krankheit: Ihnen ist schwindlig, Sie müssen sich übergeben, Sie haben Schweißausbrüche, und Ihr Gehör wird immer schlechter.«
    Sie sah mich an, vor allem meinen Mund, und weil sie nicht wegschaute, hatte ich ein merkwürdiges Empfinden.
    »Das kommt daher, Sie haben zu viel Flüssigkeit im Ohr, und die kriegen Sie nur raus, wenn Sie in den Knochen im Mittelohr ein Loch bohren, damit das Zeug abfließen kann. Aber eine Garantie ist das nicht. Also hab ich Tabletten genommen, gegen die Beklemmungen, die Panikattacken. Bei manchen Leuten führt die Krankheit zu weniger schlimmen Begleitumständen, bei mir führte sie dazu, dass ich immer weniger höre, auf dem linken Ohr fast nichts mehr. Es gibt Tage, da renne ich zwanzigmal auf die Toilette, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, röchele nur noch und würge, und nichts kommt raus. So ein Anfall kann fünf bis zehn Minuten dauern, es ist fürchterlich. Dreißig Jahre passe ich jetzt auf, dass niemand was merkt, vor allem in den letzten zehn Jahren, und das allein ist manchmal so viel Stress, dass ich schon davon keine Luft kriege. Wenn ich Pech habe, bin ich in ein paar Jahren vollständig taub.«
    »Warum haben Sie Ihre Krankheit verheimlicht?«, sagte ich.
    »Warum?«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Sie haben gut reden, Sie sind Beamter, Ihnen kann niemand kündigen! Ich wär die Erste gewesen, die sie rausgeschmissen hätten, damals vor acht Jahren und jetzt wieder, Sie wissen doch selber, wie viele Menschen in München arbeitslos sind, mehr als jemals zuvor. Was hätt ich denn tun sollen danach? Ich hab Bankkauffrau gelernt, schön, bei der Raiffeisenbank wär ich nicht mehr untergekommen, da hab ich mich schon unauffällig erkundigt, die stellen höchstens junge Leute ein, wenn überhaupt. Ich weiß doch, wie das ist, wenn man auf der Straße steht, hab ich doch mitbekommen, wie man sich da fühlt, alles bricht weg, plötzlich sind Sie eine Randfigur, egal, was Sie vorher geleistet haben, wenn Sie einmal aus dem normalen System raus sind, kommen Sie nur sehr schwer wieder rein, die Zugbrücken gehen schnell hoch, sehr schnell gehen die hoch. Und ich? Krank wie ich eigentlich bin? Ich hab Atteste hier, wenn ich die meinem Chef zeig, krieg ich morgen einen warmen Händedruck und das wars dann. Das wollte ich nicht. Ich mag meinen Beruf, ich bin gern in der Bank, ich rede gern mit den Leuten.«
    Ich sagte: »Verstehen Sie die Leute von Ihrem Platz aus hinter der Glasscheibe?«
    Sie nahm die Hand von der Teetasse und strich sich über die andere. Dann hob sie überrascht den Kopf. »Haben Sie was gesagt?«
    »Nein«, sagte ich. »Ist es nicht schwierig für Sie, die Leute hinter der Glasscheibe zu verstehen?«
    »Ich kann von den Lippen lesen«, sagte sie, und ich neigte mich ein wenig vor, aus Versehen, als könne sie dann besser lesen. »Ich hab mir das selber beigebracht, ich hab mich geniert, zu so einem Verein zu gehen, ich dachte, wenn mich jemand kennt, der weiß, dass ich auf der Bank arbeite. Ich hab im Fernsehen den Ton weggedreht und dann mitgesprochen. Ist das nicht peinlich? Aber es hat funktioniert. Mit meinem Restgehör und meiner Lippenlesekunst werd ich die zwei Jahre noch schaffen bis zur Rente.«
    »Und niemand hat jemals etwas bemerkt?«, sagte ich.
    »Nein.«
    »Und Sie haben es niemandem erzählt?«
    »Doch«, sagte sie. »Meiner Mutter.«
    »Und sonst niemandem?«
    Sie stand auf, sah auf mich herunter, warf einen kurzen Blick auf die Katze, die schwerfällig meinen Bauch bewachte, und berührte mich im Weggehen mit einer vollkommen unerwarteten Geste. Mit den Fingerspitzen strich sie über meine Haare, und aus irgendeinem Grund, vielleicht in einer Art Übersprungshandlung, tat ich bei der Katze das Gleiche. Im Gegensatz zu mir schnurrte sie sofort.
    Als Martin ins Zimmer zurückkam, berichtete ich ihm von der Menièreschen Krankheit. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke,

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