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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ich dasselbe.
    »War die Frau ein Vermisstenfall?«, sagte sie, während das heiße Wasser auf mich niederprasselte.
    »Nein«, sagte ich. Nachdem ich mir die Haare geföhnt und mich angezogen hatte, sagte ich: »Wir kannten uns aus der Kneipe. Er und seine Frau waren seit der Schulzeit zusammen. Irgendwann wollte sie es einfach mal mit einem anderen Mann probieren, er hat sie schlecht behandelt, sie hat ihn verlassen und sich einen neuen gesucht.«
    »Bitte?«
    »Sie war besessen von der Idee, schönen Sex mit einem anderen Mann als ihrem eigenen zu haben.«
    »Warum?«
    »Ich habe sie nicht gefragt. Es klappte sowieso nie. Aber dann wollte sie nicht mehr zu Jonathan zurück, sie schämte sich. Sie war Ende dreißig.«
    »Und du hast sie dazu gebracht zurückzukehren«, sagte Sonja.
    »Ja«, sagte ich. »Ich habe ihr eine ganze Nacht lang zugehört.«
    »Wollte sie mit dir auch ins Bett?«
    »Ja.«
    Sonja, die am Tisch saß, unterbrach das Schminken. Ich schwieg.
    »Du hast mit ihr geschlafen«, sagte sie. Ich sagte: »Es ging nicht anders.«
    »Ich will deine Weibergeschichten nicht hören«, sagte Sonja und klappte den Spiegel zu, den sie in der Hand hielt. »Ein sauberer Freund bist du! Hast du Jonathan davon erzählt?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Bitte?«
    »Er hat gesagt, wenn es geholfen hat, sie zurückzubringen, ist ihm alles recht.«
    »Du lügst mich an«, sagte Sonja.
    »Ja«, sagte ich und setzte mich auf die Bettkante, ihr gegenüber.
    »Du hast die Geschichte erfunden?«, sagte Sonja.
    »Ich kenne Jonathan nicht, ich hatte die Idee, heute eine Stunde mit dir in einem Hotelzimmer zu verbringen, also bin ich nach unserer Fahrt in die Lerchenau hierher gegangen und habe dem Mann an der Rezeption meinen Plan erklärt. Er fand ihn gut.«
    »Aber warum hast du mir gerade diese Geschichte erzählt?«, sagte sie und sah mich mit ernster, fast besorgter Miene an.
    »Damit wir noch nicht gehen müssen«, sagte ich. Es war kindisch, es war lächerlich, wie der gelbe im Kreis fliegende Kanarienvogel. Und dennoch war es wahr. Ich war vierundvierzig Jahre alt, und als ich dreizehn war, starb meine Mutter, und als ich sechzehn war, verschwand mein Vater, und ich sah ihn nie wieder. Ich kannte alle Gesetze der Einsamkeit, und manchmal bildete ich mir ein, ich hätte das Vergehen der Zeit an meinem ersten Geburtstag begriffen und es würde nichts bedeuten, es wäre nur ein Übel, das man nicht los wurde. Und ich beobachtete andere Kinder, andere Erwachsene, ich sah, wie sie heranwuchsen und lebten, zwischendurch trauerten sie um jemanden, der gestorben, oder eine Liebe, die zerbrochen, einen Sommer, der vergangen war, aber dann nahmen sie wieder in der Wirklichkeit Platz und stellten vergnügt im Frühjahr die Uhren eine Stunde vor, und ich weigerte mich, überhaupt eine Uhr zu tragen. Wenn mein Vorgesetzter mich fragte, was der Unsinn solle, sagte ich, ich sei umzingelt von Zeit, wo immer ich hinkomme, eine Uhr sei auf jeden Fall vor mir da.
    Ich hatte keine Angst vor dem Alter, ich sehnte mich nicht nach der Kindheit zurück, und der Tod war mein Alltag, als ich noch in der Mordkommission arbeitete.
    Aus dem Spiegel sah mich ein alternder Kerl an, den ich nicht gegen einen anderen tauschen wollte.
    Ich wollte nur manchmal etwas länger bleiben.
    »Wir müssen los«, sagte ich und zog die Lederjacke an und den Reißverschluss zu.
    »Warum jetzt so plötzlich?«, sagte Sonja, die immer noch am Tisch saß wie vorhin. Als wäre es immer noch vorhin.
    »Ich warte in der Halle auf dich«, sagte ich und verließ das Zimmer.
    Ich hatte gerade bezahlt und mich von Jonathan verabschiedet, da kam sie mit der ledernen Schirmmütze auf dem Kopf in ihrem dunkelgrauen knielangen Wollmantel die Treppe herunter, verwirrt und nicht willens, mir die Hand zu geben. Aber ich schwieg. Hinter ihr trat ich durch die Glastür, die sich automatisch öffnete, hinaus in den kühlen Abend. Unter dem Baldachin blieb Sonja stehen, sah mich lange an, nahm mein Gesicht in beide Hände, küsste mich auf den Mund und sagte mit einem grünen Staunen in den Augen: »Das war wirklich wunderschön.« Dann wandte sie sich zur Straße hin, und ich wartete noch ein wenig auf nichts.
    Bevor wir aus dem Auto stiegen, fragte Martin: »Was hat das Zimmer in dem Nobelhotel eigentlich gekostet?«
    Ich sagte: »Glaubst du, das spielt eine Rolle?«
    »Ich will es trotzdem wissen.« Ich sagte es ihm nicht.
    Auf dem Weg zum Haus Nummer fünfzehn meinte

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