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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wollte zu ihm. Ich wollte ihn fragen, ob er der Mann war, der damals einen unverständlichen Brief geschrieben und eine nach Rasierwasser riechende Lederjacke zurückgelassen hatte .
    Und wenn er ja sagte?
    »Ja?«, sagte Lotte Feininger .
    »Ja?«
    »Sie haben was gemurmelt, das hab ich nicht verstanden.«
    »Vorbei«, sagte ich.
    »Sie haben von mir gehört, oder?«, sagte sie .
    Ich sagte: »Das geht mich nichts an.«
    Plötzlich wandte sie sich um und sah nachdenklich zum Parkplatz oberhalb der Böschung. »Hier ist die kleine Anna verschwunden.«
    »Angeblich«, sagte ich .
    »Wissen Sie was Genaues?«
    »Nein«, sagte ich. »Aber es ist nicht geklärt, wo das Mädchen sich zuletzt aufgehalten hat.«
    »Sie war hier verabredet«, sagte Lotte Feininger. »Da, direkt beim Kiosk.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie senkte den Kopf. Sekunden vergingen. Dann flog ein Blick über mich, und sie streckte mir die Hand hin. »Ich muss los. In einer Stunde steht meine Tochter auf. Und wenn sie weg ist, beginnt der Alptraum.« Anders als vorhin war ihr Händedruck flüchtig und weich. Mit einer hastigen Drehung machte sie sich auf den Weg zu ihrem Fahrrad, das sie am Rand des Parkplatzes an einen Baum gelehnt hatte.
    »Frau Feininger«, sagte ich in ihren Rücken. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
    Sie blieb stehen, wandte sich aber nicht um .
    »Es geht um einen Schulfreund von mir«, sagte ich. »Und um Pfarrer Wild.«
    »Der Pfarrer ist tot«, sagte Lotte Feininger .
    »Ich möchte einfach gern mit Ihnen sprechen.«
    »Warum denn?«
    Nach einem Schweigen sagte ich: »Vielleicht wissen Sie etwas, was sonst niemand weiß.«
    Langsam, wie mit größter Anstrengung und mit einem misstrauischen Zucken um den Mund, drehte sie sich zu mir um. Wieder verschränkte sie die Arme, blickte an mir vorbei zum See und schwieg.
    Das Wasser schlug gegen den Steg, und ein leichter Wind kam auf.
    Ich dachte an Niko, an das Gewehr, das er vielleicht besaß, an Bogdan, auf den die Kollegen unermüdlich einredeten, und an Martin, der hoffentlich in seinem Zimmer schlief. Und ich dachte an Sissi und ihre Kneipe, und an Evelins Partykeller, in dem ich mit Bibiana gesessen hatte und mich nicht traute, sie zu berühren. Und ich dachte, ich sollte gehen, weg von hier, vom See, vom Dorf, von den Erinnerungen und dieser zitternden Frau mit den verschwommenen Pupillen.
    Auf einmal, in dem Moment, als die Sonne in obszöner Schönheit angesichts des gottlosen Platzes, der ein Mädchen verschluckt hatte, über den Hügel stieg, sah ich mich in der Zukunft, außerhalb der alten, todgewohnten Zimmer, in einem anderen Zimmer, vor einem Fenster mit billigen, aber sauberen Gardinen. Und ich machte einen Schritt auf die Frau zu und sagte: »Ich werde Sie nicht belästigen, ich reise ab.«
    »Bitte«, sagte die Frau. »Ich sterb gleich vor Verzweiflung.«

8
    E inen Tag später traf die Soko »Anna« zu ihrer letzten Besprechung zusammen.
    Zur gleichen Zeit obduzierten zwei Pathologen die Leiche des zehnjährigen Mädchens und schickten am nächsten Tag – Sonntag, vierter Juli – das vorläufige Ergebnis ihrer Untersuchungen an Elmar Marienfeld und die zuständige Staatsanwaltschaft.
    Am darauf folgenden Donnerstag, dem achten Juli – genau ein Jahr und drei Tage nach dem Verschwinden der Schülerin – fand auf dem katholischen Friedhof der Gemeinde Taging die Beerdigung statt. Es war ein sonniger Tag mit Temperaturen um die dreißig Grad .
    Als zwei Männer in grauen Anzügen den kleinen, weißen Sarg in die Erde ließen und die Kirchenglocken aufhörten zu läuten und es auf dem Friedhof vollkommen still geworden war, hörte ich in der Menge ein kurzes Husten, dann ein Scheuern von Schuhen im Kies und schließlich die sich überschlagende Stimme einer alten Frau .
    »Geh weg, du Sau!«, schrie sie.
    Die Fotografen rissen ihre Apparate hoch, und ein entsetztes Raunen ging durch die Reihen der Trauernden, die erst allmählich begriffen, wen die Frau gemeint hatte .
    Ein Kopf nach dem anderen wandte sich um, ein Augenpaar nach dem anderen folgte dem Blick der schwarz gekleideten, zornig die Fäuste aneinander schlagenden Frau .
    Aber ich ging nicht weg.
    Ich ging erst, als der Priester mich bat, ihn zu begleiten, vorbei an den Reportern, die sich nicht trauten, mich anzusprechen, den Fotografen, die seit dem Aufschrei von Franziska Bergrain, der Pfarrhaushälterin, hunderte Aufnahmen von mir geschossen hatten, ohne dass es nur einem von ihnen gelungen wäre,

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