Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
zurückließ, war für mich von einer solch unerschütterlichen Endgültigkeit, dass jede Form von Zuversicht in Gedankenblubbern unterging. Über dem Stuhl in der Küche, wo er mir zuvor über den Kopf gestreichelt und geweint hatte, hing die Lederjacke meines Vaters, und auf dem Tisch lag ein Brief, der im Wesentlichen einen Satz enthielt, dessen Raunen mich jahrelang verfolgen und mich in manchen Augenblicken zu einer fast hysterischen Erwartungshuberei verführen sollte. Dann bildete ich mir ein, mein Vater habe mir damals, an jenem zweiundzwanzigsten Dezember, eine Botschaft hinterlassen, die zu entschlüsseln mir erst als Erwachsener gelingen und die schlagartig jeden Zweifel, jede Wut, jede Verlassenheit von mir nehmen würde. Anderntags lachte ich mich aus und schlug nur noch heftiger auf die Bongos in dem Zimmer ein, das ich gelb gestrichen und mit Ausnahme eines Stuhls und der Trommeln leer gelassen hatte.
Jetzt, am Morgen des zweiten Juli, unter einem Himmel voller blauenden Versprechungen, hörte ich die Stimme meines Vaters wie in jener Nacht, in der ich unendlich schmerzhaft begriffen hatte, wer ich in Wirklichkeit war. Nämlich ein Niemand. Niemandes Kind, niemandes Herzensbewohner mehr, ein Hinterbliebener, ausgesetzt an einem See, der einen Fremden spiegelte, einen, den ich nicht wiedererkannte, obwohl ich von ihm schon oft übel beleidigt wurde, wenngleich es so viele Jahre her war, seit ich als Kind ungeniert ins Wasser gepinkelt hatte.
Wie damals redete ich auch heute mit dem See und er mit mir, und ich hockte auf der niedrigen Steinmauer, die sich nicht verändert hatte, dasselbe Moos, dieselbe wettergegerbte Musterung, und sah hinüber zu den Bergen und hörte wie ein hämisches Echo die Stimme meines Vaters. Gott ist die Finsternis und die Liebe das Licht, das wir ihm schenken, damit er uns sehen kann. Ob mein Vater an Gott glaubte, wusste ich nicht, in die Kirche ging er selten, vielleicht an Weihnachten, um die Krippe zu bewundern und für meine Mutter eine Kerze anzuzünden, und zu Hause sprachen wir nie ein Gebet. Welche Liebe meinte er, und wenn Gott finster war, wie sollte er uns dann überhaupt wahrnehmen? Fing Gott erst zu existieren an, wenn wir ihn liebten? Oder einen Menschen? Oder ein Tier? Oder die Natur? Hast du heut schon an Gott gedacht?, fragte ich den See, und er antwortete: Hab ich vergessen. Ich auch, sagte ich, und er: Wenn du so weitermachst, krepieren mir noch meine Forellen, die vertragen Salzwasser nicht. Ich wischte mir über die Augen, aber sie waren immer noch nass. Und ich presste die Hände flach auf mein Gesicht, und Rotz lief mir aus der Nase. Und als ich die Hände wegnahm, heulte ich noch mehr.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte eine Stimme hinter mir .
Ich drehte mich um und sah eine Frau in einem beigen Leinenkleid und einer hellblauen Jacke, die einen Meter von mir entfernt stand .
»Alles okay?«, sagte die Frau.
»Ja«, sagte ich. »Ich war die ganze Nacht wach, und jetzt kriege ich meine Erinnerungen nicht los.«
»So wie ich.« Die Frau kam näher, und ich erhob mich .
»Bleiben Sie doch sitzen. Ich konnt auch nicht schlafen … Schreckliche Nacht … Und …«
Kleine Falten durchzogen ihr rundes Gesicht, ihre Lippen wirkten rissig und blass, ihre roten Haare, die gefärbt aussahen, hatte sie mit einem Tuch zusammengebunden, aber sie wirkten trotzdem ungekämmt und ungewaschen .
Wenn ich mich nicht täuschte, zitterte sie, und sie bemühte sich, es nicht zu zeigen. Mit verschränkten Armen stellte sie sich neben mich und starrte wie vorhin ich zu den Bergen hinüber.
»… Und die Nacht ist noch nicht zu Ende«, sagte sie .
»Noch lang nicht, wie ich fürchte. O Gott …«
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte ich .
»Das glaub ich nicht. Sind Sie von hier?«
»Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Tabor Süden.«
»Der Polizist!« Überrascht drehte sie den Kopf zu mir. »So ein Zufall. Guten Morgen!« Sie hielt mir die Hand hin .
»Lotte Feininger.«
»Guten Morgen, Frau Feininger.«
Sie sah mich an und dann mit einer entschiedenen Kopfbewegung wieder über den See.
Das Wasser schlug leise gegen die Pfähle des Stegs .
Das monotone, versöhnliche Plätschern passte wie ein Rhythmus zum Singsang der Vögel. Kein Auto fuhr vorüber. Manchmal glaubte ich, Stimmen zu hören, vielleicht aus einem Radio, aus einem offenen Fenster. Bald würde die Sonne aufgehen. Und ich würde mit Marienfeld sprechen. Bogdan schweigt. Ich musste zu ihm. Ich
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