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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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heranzutreten. Als er einen Meter vor mir stand, verschränkte ich die Hände auf dem Rücken und bewegte mich nicht mehr. Ich starrte in die Kamera .
    »Herr Süden!«, sagte die junge Frau mit der Sonnenbrille im Haar.
    Ich schwieg, reglos. Anatol Ferenz zog mich wieder am Arm, aber ich reagierte nicht. Mienenlos schaute ich in die Kamera.
    Hinter mir hörte ich jemanden flüstern: »Will der sich wichtig machen?«
    Ich sah nicht hin.
    Jemand anderes sagte: »Wer solche Hosen trägt!«
    Ein Dritter: »Habt ihr das Amulett gesehen? Und die Narbe an seinem Hals? Was genau macht der bei der Polizei?«
    »Kommen Sie bitte!«, sagte der Pfarrer .
    Als die Kirchturmuhr die volle Stunde schlug, nickte ich Ferenz zu, und wir gingen ins Pfarrhaus .
    Fünf Minuten hatte ich bewegungslos dagestanden. Und vielleicht waren die Journalisten, aufgequollen von Ratlosigkeit, nur wegen des neben mir stehenden Priesters im Ornat nicht handgreiflich geworden.
     
    »Erzählen Sie, was Sie möchten«, sagte Ferenz .
    In der Zwischenzeit hatte er sich umgezogen, er trug jetzt eine schwarze Stoffhose und einen schwarzen Pullover, und er roch nach Rasierwasser. Er hatte mir Kaffee, Cognac und Weißwein angeboten, aber ich wollte nur Wasser trinken und mich an die Wand des mit hellen, schmucklosen Holzmöbeln eingerichteten Wohnzimmers lehnen. Mir gegenüber hing ein Landschaftsgemälde, das dem in der Gaststube des »Koglhofs« glich, nur die Patina war weniger dunkel.
    Der Pfarrer, der im Auftrag der Diözese vorübergehend die Gemeinde Taging betreuen sollte, war ein schlanker Mann Anfang fünfzig mit schwerfälligen Bewegungen und einem verschlossenen, auf den ersten Blick abweisend wirkenden Gesichtsausdruck. Seine eindringliche, kraftvolle Art zu sprechen und sein ruhiger, entschlossener Blick, wenn er predigte oder sich direkt an jemanden wandte, nahmen jedoch schnell für ihn ein. Die Leute glaubten ihm seine Hingabe und Anteilnahme, auch wenn sie ihn kaum kannten und ihm in Erinnerung an ihren verehrten alten Pfarrer Wild mit Skepsis begegneten.
    »Erzählen Sie, was Sie möchten.« Er saß mit gefalteten Händen am Tisch, ein halb volles Glas Weißwein vor sich, ruhig und konzentriert, ohne Anzeichen von Erschöpfung nach der fast zweistündigen Beerdigungsfeierlichkeit, an der mindestens fünfhundert Menschen teilgenommen hatten.
    »Ich verstehe nicht«, sagte ich und wunderte mich, dass ich ausgerechnet daran dachte, »wie ich es in der Menge ausgehalten habe. Normalerweise wäre ich vor Beklemmung schreiend davongerannt.«
    Ferenz betrachtete mich eine Weile .
    »Sie wollten nicht weglaufen«, sagte er. Sein Blick ruhte auf mir, während er am Weinglas nippte, ehe er es abstellte.
    Wir schwiegen. Durchs Fenster, das auf den hinteren Teil des Grundstücks ging, drang das Geräusch anfahrender Autos. Wenn ich mich ein wenig vorbeugte, konnte ich am Rand der Wiese einen Teil eines rotweißen Plastikbandes erkennen. Ich schaute nicht länger hin .
    An den Rändern der Stille, die das Zimmer erfüllte, klangen die Gesänge des Chores nach, das Schluchzen aus den Bänken, das Knirschen auf Kies, das Klicken der Fotoapparate, die Stimmen der Betenden, das Zwitschern der Vögel, das Läuten der Glocken, der Wutschrei von Franziska Bergrain.
    Ferenz räusperte sich. »Möchten Sie sich nicht doch setzen?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ihre Kollegen haben mir berichtet, Sie seien ebenso erfolgreich wie eigenartig, und obwohl Sie ungern Fragen stellen, würden Ihnen die Leute nach kurzer Zeit ihr halbes Leben beichten. Ist das wahr?«
    Ich sagte: »Wem sollten sie es sonst beichten?«
    »Mir zum Beispiel«, sagte Ferenz und wirkte nicht heiter dabei, eher grüblerisch.
    »Nein«, sagte ich. »Sie beichten ja keine Sünden.«
    »Sondern?«
    »Sondern ihr Alleinsein, für das sie sich schämen.«
    »Das Alleinsein des Mörders«, sagte Ferenz .
    »Das ist der Unterschied zwischen uns«, sagte ich. »Ich bin nicht da, um zu vergeben, so wenig ich da bin, um zu verurteilen. Ich höre zu. Danach schreibe ich einen Bericht, und mein Auftrag ist beendet.«
    »Und dann?« Ferenz sah mich unentwegt an. »Sind Sie dann fertig damit? Was tun Sie mit den Aussagen eines Mörders, wenn Sie allein sind?«
    »Ich bin für Mörder nicht zuständig«, sagte ich. »Ich suche Verschwundene.«
    »Sie weichen mir aus.«
    »Ja«, sagte ich.
    Vorwurfslos teilte er mein Schweigen. Aus Versehen – vielleicht, weil das Licht mich verlockte – sah ich zum

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