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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wenns in die Zeitungen kommt. Als wir ihn aufgegriffen haben, gestern Nachmittag, etwa eine Stunde nachdem die Frau bei uns angerufen hatte, waren schon zwei Fotografen da. Stellen Sie sich das vor! Wenn ich das von den Kollegen richtig verstanden hab, hat er sich auch auf dem Friedhof rumgetrieben, was er da wollte, wissen wir noch nicht. Sagt Ihnen der Name was? Bogdan?«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Bei Ermittlungen habe ich einmal einen Stadtstreicher getroffen, der so hieß.«
    »Wollen Sie mit Marienfeld sprechen? Er ist schon im Dienst. Ferneck hat ihn grad in der Leitung. Wir müssen wissen, wie wir jetzt mit Krapp weiter verfahren. Er steht unter Beobachtung, er ist definitiv nicht sauber.«
    »Er behauptet, er hat ein Gewehr«, sagte ich .
    »Hat er einen Waffenschein?«
    »Natürlich nicht.«
    »Guter Grund, ihn mitzunehmen«, sagte Habich. »Unter den gegebenen Umständen.«
    »Meinem Eindruck nach hat er mit dem Verschwinden des Mädchens nichts zu tun.«
    »Ehrlich? Glauben Sie das? Haben Sie mit ihm gesprochen? Sicher, die ganze Nacht!« Er lachte fast. Schlagartig wurde er wieder ernst. Dann drehte er unmerklich den Kopf zum Auto und deutete mir an ihm zu folgen .
    Nach ein paar Schritten sagte er mit gesenkter Stimme:
    »Ich bin absolut Ihrer Meinung, der Kerl ist ein Wichtigtuer, ein Schwätzer. Möglicherweise war er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, aus unserer Sicht, blöderweise wie hundert andere auch. Ein Strohhalm für den Marienfeld. Und jetzt dieser Bogdan. Das ist ja lustig, dass Sie den kennen!«
    »Vielleicht«, sagte ich.
    »Das ist fürchterlich mit dem Mädchen«, sagte Habich. Er nickte in Richtung Auto, und wir machten kehrt. »Für die Eltern, die Familie, für das Dorf, und für uns. Wir sind die Versager. Haben Sie sowas schon mal erlebt? Dass Sie ein verschwundenes Kind nicht finden konnten?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Wieso sind Sie eigentlich nicht in der Soko? Das wär doch ein Fall für Sie.«
    »Ich bin nicht gefragt worden.«
    »Wollen Sie in die Soko einsteigen? Ich kann nichts entscheiden, aber wenn ich Marienfeld darauf ansprech …«
    »Er macht seine Arbeit«, sagte ich .
    »Wenn Sie meinen …« Habich bückte sich zum Wagenfenster. »Was Neues, Rolf?«
    »Bogdan schweigt«, sagte Ferneck .
    »Bogdan schweigt«, wiederholte Habich und gab mir die Hand. »Möglicherweise sollten Sie mit ihm sprechen.«
    »Vielleicht«, sagte ich.
    Noch einmal blickte ich durch das Seitenfenster. Martin saß in der Mitte der Rückbank, den Kopf auf der Brust, und schlief.
    »Wegen Krapp und seinem Gewehr sagen wir den Kollegen hier Bescheid, die sollen das erledigen«, sagte Habich und stieg ein.
    Ich wartete, bis der Wagen am Ende der Dorfstraße verschwunden war. Dann ging ich zum Zaun, der das schmale Grundstück vom Bürgersteig trennte, lehnte mich dagegen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. In meinem Kopf begann kein neuer Tag. Sondern eine uralte Nacht.
     
    In der Nacht, in der ich so viel Bier getrunken hatte, dass ich mich übergeben musste, lief ich dieselbe Straße hinunter wie jetzt. Um mich herum eine wirbelnde Welt, in mir ein Finsternis spuckender Vulkan. Und wie eine tönende Schleppe zog ich die Lieder hinter mir her, die Hilmar, der Wirt der Kneipe, die heute »Bei Sissi« hieß, den ganzen Abend gespielt hatte. Ich stolperte. Ich hielt mir den Bauch. Ich war sechzehn und Bewohner eines Palastes, der statt aus Wänden aus Wunden bestand. So wahrhaftig ich litt, so inbrünstig zelebrierte ich mein Leiden, es gefiel mir, dass ich von nun an mit meiner Einsamkeit hausieren gehen konnte, ohne als schwärmerischer Jugendlicher zu gelten. Es war ein wallendes Gefühl, mir vorzustellen, jeden Morgen mit einer Aura von Verlorenheit das Klassenzimmer zu betreten und mich in die letzte Reihe zu setzen und zu schweigen, mit verschatteten Augen und unbeholfenen Gesten, als überforderten und beängstigten mich die Dinge der Welt, das Aufschlagen des Buches zum Beispiel, das Heben des Armes, das Dastehen mit verschränkten Armen auf dem Pausenhof, Kopf im Nacken, die Augen geschlossen.
    Es war eine einzige, einmalige Chronik, die ich in jener Nacht Schritt für Schritt in mir schuf, ein Lebenswerk, der Beweis für mein lächerliches Umherirren, als befände ich mich allen Ernstes auf der Suche nach dem Menschen, der mir durch sein vollkommen überraschendes, unerklärliches Verschwinden die Fähigkeit, jemanden zu vermissen, geraubt hatte. Denn was er

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