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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Fenster.
    Und als wolle er mir Beistand leisten, wandte der Priester ebenfalls den Kopf dorthin .
    »Ich sollte gehen«, sagte ich .
    »Wohin?«, sagte Ferenz.
    »Zurück nach München.«
    »Zu Frau und Kind?«
    Ich sagte: »Ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Kinder.«
    »Eine Freundin.«
    »Ja.« Und weil ich nicht wollte, dass er mein Schweigen als Wichtigtun empfand, sagte ich: »Wir sind gerade auf Abstand.«
    »Sie sind auf Abstand.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Weil Ihr Beruf Sie zu stark mitnimmt, noch zu Hause, auch wenn Sie Ihre Berichte längst geschrieben und abgegeben haben, horchen Sie immer noch nach.«
    »Vielleicht«, sagte ich. Mein Wasserglas stand auf dem Tisch, ich hätte gern daraus getrunken, aber ich wollte die Wand nicht verlassen, die angenehme Empfindung nicht unterbrechen, die der Druck meiner Hände gegen die kühle Tapete in mir auslöste.
    »Sprechen Sie mit Ihren Kollegen darüber?«, sagte Ferenz.
    »Mit einem oder zwei. Manchmal. Immer weniger.«
    »Warum immer weniger?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wo ist Ihr Freund, der mit Ihnen hier war?«
    »Zurück im Dezernat. Wir haben einen neuen, schwierigen Fall.«
    »Die verschwundene Tochter des Showmasters?«
    »Ich müsste längst bei meinen Kollegen sein. Ich habe darauf bestanden, an der Beerdigung teilzunehmen.«
    »Das war richtig«, sagte Ferenz. »Was die Reaktion der guten Frau Bergrain betrifft …«
    »Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen«, sagte ich .
    »Sie haben Recht. Wie lange sind Sie schon bei der Polizei?«
    »Seit dem Ende meiner Jugend.«
    »Und Sie bleiben bis zum Ende Ihres Berufslebens?«
    Ich schwieg.
     
    Am wenigsten hätte ich erwartet, im selben Jahr noch einmal nach Taging zurückzukommen, und nicht etwa , um einen weiteren Vermisstenfall zu bearbeiten, was seltsam genug gewesen wäre, sondern um mich zu verkriechen, zu verschwinden, unerreichbar zu sein. Um anzufangen, Abschied zu nehmen. Von den Spurrinnen der vergangenen zwei Jahrzehnte im Dezernat 11. Von den Vorstellungen, die ich von Vermissung zu Vermissung in der irren Hoffnung angehäuft hatte, ich würde beim nächsten Mal die Lüge schon am Atem des Lügners erkennen und könnte kraft meines Talents, meiner Erfahrungen, meiner Intuition und meiner zungenlösenden Schweigefähigkeit das Schlimmste verhindern. Ich konnte es nie. Nie in tausend Fällen, nicht ein einziges Mal.
    Ich fand Verschwundene, ich brachte die verstocktesten Zeugen zum Sprechen und sprengte stählerne, unterirdische Familienverliese. Ich rekonstruierte Biografien aus nichts als Gestammel. Ich holte Kinder aus den Folterkammern ihres Hasses und ihrer Verlorenheit. Ich horchte Wände ab nach dem Wimmern von Liebenden, die sich gegenseitig einbetoniert hatten, weil sie vielleicht – aus Ichversessenheit oder weil sie sich ungeschickt anstellten – dem donnernden Glück nicht gewachsen waren, das wie aus heiterem Himmel über sie gekommen war.
    Ich verbrachte ganze Nächte an der Seite von Unsichtbaren und ging nicht eher weg, bis sie sich redend, weinend, trinkend, rauchend, verfluchend und schreiend endlich wiedererkannten und ihr Gesicht in die Morgenluft hielten, als würden sie in einen erlösenden Spiegel schauen. Ich verfasste Unmengen von positiven Berichten und sehr beruhigenden Statistiken. Aber das Schlimmste habe ich nie verhindert. Das Schlimmste trat einfach ein und ließ mich als mickrigen Beamten zurück, der sein Gehalt weiterbezog, weil das Schlimmste darin inbegriffen und damit abgegolten war .
    Wenn ich ein einziges Mal das Schlimmste hätte verhindern können, säße ich vielleicht jetzt nicht hier .
    Vielleicht wäre ich weiter den Spurrinnen gefolgt, reichlich selbstbewusst. Vielleicht wäre ich in die Annalen der Kriminalgeschichte eingegangen und meine Arbeitsweise polizeischultauglich geworden. Vielleicht hätte ich Sonja Feyerabend geheiratet, und wir hätten jeden zweiten Feierabend gemeinsam mit unserem besten Freund Martin Heuer im Kino verbracht oder in einem Gasthaus, die Gläser wie Zepter schwingend, mächtig anwesend und überzeugt von Unsterblichkeit, wie Könige.
    Aber ich habe das Schlimmste nicht verhindert .
    Ist mir nicht geglückt.
    Und ich habe Sonja Feyerabend nicht geheiratet .
    Und ich habe Martin Heuer nicht retten können. Ich bin allein hier .
    An einem Ort, den niemand kennt.
    Wie damals in Taging sitze ich vor einem offenen Fenster, denn draußen geht die Sonne um.
    »Werden Sie Ihre Freundin heiraten?«, fragte Anatol

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