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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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einen Blick von mir zu erwischen, vorbei an einer Gruppe Schaulustiger, die auch noch eine Stunde nach dem Ende der Zeremonie in der Nähe des Grabes ausharrten und auf einen weiteren Zwischenfall hofften, vorbei am Abfallcontainer, dessen Deckel geschlossen war.
    Beim Überqueren des asphaltierten Platzes zwischen Friedhof und Pfarrhaus warteten Fernsehteams. Eine junge Frau mit einer schwarzen Sonnenbrille im Haar, die unüberhörbar in der Gruppe der ungefähr zwanzig Journalisten am intensivsten auf ihre Kollegen eingeredet und die Vorgänge kommentiert hatte, überholte Pfarrer Ferenz und mich und stellte sich uns in den Weg. Wir waren gezwungen stehen zu bleiben .
    »Herr Süden!«, rief sie, und ein Kameramann nahm mich sofort ins Visier.
    Auf Wunsch von Annas Eltern, des Bürgermeisters und der Polizei waren während der Beisetzung die Fernsehteams außerhalb der Friedhofsmauer geblieben, nur deren schreibende Kollegen und die Fotografen durften in der hintersten Reihe dabei sein. Auf einer geschickt geführten Pressekonferenz, an der auch Severin Jagoda, Anatol Ferenz und ich teilnahmen, war es Marienfeld gelungen, den Reportern Zugeständnisse bei der Berichterstattung abzuringen. Nach der Entlarvung des Täters und der Entdeckung der Leiche drohte das gesamte Dorf unter einer Medienlawine begraben zu werden. Und ich, der für den Fall nicht zuständig gewesen war und ihn dennoch auf eine auch für mich überraschende und erschreckende Weise gelöst hatte, schwieg. Gab kein Interview, verweigerte jede öffentliche Aussage, antwortete auf der Pressekonferenz auf keine Frage.
    In meinem Hotelzimmer, mit Blick auf die von Kühen heißhungrig gemähte, von fetten, braunen, in der Sonne verkrusteten Fladen übersäte Wiese, schrieb ich meinen Bericht, übersetzte das Chaos einer Nacht und eines Vormittags in den nüchternen Tonfall einer Kriminalakte, legte mich zwischendurch – verschwitzt, in Hose, Hemd und Schuhen – aufs Bett und weinte nach innen. Ich weinte über das Schicksal der kleinen Anna. Über das gewöhnliche Herz des Täters. Über die Unfähigkeit aller, ihn zu durchschauen. Über die gottgegebene Lächerlichkeit, das Lachen, das Singen, das Springen und das Träumen erfinden zu dürfen und für bloß zehn Jahre auf den Weg geschickt zu werden.
    Dann raffte ich mich auf und schrieb meinen Bericht weiter. Und wenn ich den Kopf zum offenen Fenster hin hob, roch ich den süßen Duft des Sommers .
    In jeder Aufklärung, in jedem Schließen einer lückenlosen Beweiskette lag ein Scheitern. Jedem kriminalistischen Triumph ging das Versagen einer ganzen Welt voraus, ganz egal, wie groß diese sein mochte, groß wie ein Land, wie eine Stadt, wie ein Dorf, wie ein Zimmer, wie eine Familie, eine Ehe. Um das zu begreifen, musste ich nicht vierundvierzig Jahre alt werden und fünfundzwanzig Dienstjahre hinter mich bringen .
    Doch in dem Hotel, in dem ich während jener Tage der einzige Gast war, begann die Leidenschaft für meine Arbeit von mir abzufallen wie brüchige Schuppen. Jeder Gedanke an die aktuelle Vermissung verwandelte sich in eine Anklage, eine Wut, einen Klumpen Mutlosigkeit. Das Protokoll, das ich verfasste, klang sachlich, wie immer, gab die Aussagen der Zeugen so wörtlich wie möglich wieder, wie immer, meine Sätze waren gerichtsverwertbar, sie basierten auf der professionellen Auffassungsgabe und den Erfahrungen eines in einer Unmenge von Vermissungen bewährten Kriminalhauptkommissars.
    Und zugleich ertrug ich immer weniger den Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und der Wahrheit, zwischen der vorzeigbaren, scheinbar die allgemeine Ordnung erhaltenden Existenz einer abgeschlossenen Akte und der zerstörerischen Macht des Zufalls und der Gefühle. Mein Weinen war nichts als Selbstmitleid .
    Und diese Erkenntnis, die in mir einen ungeahnten, unfassbaren Ekel verursachte, zwang mich, bis zu Annas Beerdigung in Taging zu bleiben und das Gegaffe der Dorfbewohner und das Geknipse der Fotografen zu ertragen.
    »Herr Süden!«, rief die Reporterin vor dem Pfarrhaus. »Sie sind in Taging aufgewachsen. Hätten Sie das, was passiert ist, in Ihrem Dorf für möglich gehalten?«
    Zum ersten Mal an diesem Vormittag sah ich jemandem direkt ins Gesicht.
    »Kommen Sie!«, sagte Pfarrer Ferenz und nahm meinen Arm.
    »Herr Süden!«, sagte die Reporterin mit einem angestrengten Gesichtsausdruck .
    Ich schwieg.
    »Kannten Sie den Täter?«
    Entnervt gab sie ihrem Kameramann ein Zeichen, näher an mich

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