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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ihre Wünsche mitteilten. Und ich dachte, vielleicht war es das, was Jeremias Holzapfel mit seiner Ich-bin-wieder-da-Geschichte bezweckte: Er wollte irgendwo dazugehören.
    Er saß am selben Platz wie vorher, ein Glas Wasser vor sich, und blickte, als ich das Bistro betrat, an mir vorbei oder durch mich hindurch und schien alles Mögliche zu sehen, bloß nicht mich.
    »Grüß Gott«, sagte ich.
    Sein Gesichtsausdruck veränderte sich leicht. Mit einem Mal wirkte Jeremias Holzapfel entspannter, beinah zufrieden. Er nickte ein paarmal hintereinander und klopfte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch.
    »Alles klar alles klar?«, sagte er.
    Ihm gegenüber saß Martin Heuer, ein kleines Bier vor sich. Er hatte seine graue Filzjacke nicht ausgezogen, die er jahrein, jahraus trug, abgesehen von der Zeit, in der er ausschließlich ein und dieselbe Daunenjacke anhatte.
    »Bin seit zehn Minuten da«, sagte Martin.
    Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Als Susi auf mich zukam, schüttelte ich den Kopf. Unschlüssig stand ich da und vermisste in dem Qualm und dem Fettgeruch den Sommer.
    »Sie sind mir gestern gefolgt, bis zu meiner Wohnung«, sagte ich zu Holzapfel, denn das hatte mich die ganze Zeit beschäftigt: Wie hatte er es fertig gebracht, trotz seiner offensichtlichen Verwirrtheit hinter mir herzugehen, ohne dass ich auch nur den geringsten Verdacht schöpfte? Und er musste die ganze Zeit dicht hinter mir gewesen sein, auf der Straße, in der Tram, zu Fuß den Nockherberg hinauf bis zu meinem Haus.
    »Ja«, sagte er abwesend. »Ja, ja, ja.« Was bedeutete das?
    Martin trank sein Bier aus und gab Susi ein Zeichen für Nachschub.
    »Herr Holzapfel«, sagte ich.
    Einige Sekunden später hob er den Kopf und sah zu mir herauf. Ich versuchte, seinen Blick festzuhalten, was mir nicht gelang. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Augen unterschiedlich groß waren, zumindest kam es mir so vor, sogar die Brauen hatten auf eine kuriose Weise nicht dieselbe Form. Als wäre ein unerfahrener Maskenbildner am Werk gewesen.
    »Die Frau in Ihrer Wohnung«, sagte ich, »Silvia Bast, kennen Sie sie? Warum wohnt sie dort und nicht Sie? Herr Holzapfel! Verstehen Sie mich?«
    »Sehr gut sehr gut«, sagte er. Und verstummte. Sah weiter zu mir herauf. Und klopfte wieder mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte.
    »Kennen Sie die Frau in Ihrer Wohnung auf der Theresienhöhe?«, wiederholte ich.
    Susi brachte Martin ein frisches Bier, verzog beim Anblick von Holzapfel den Mund und ging kopfschüttelnd weiter.
    »Ich muss los!«, stieß Holzapfel hervor und stand ruckartig auf. Die Frau am Nebentisch zuckte zusammen.
    »Wohin?«, fragte Martin ruhig.
    Holzapfel zog den Reißverschluss an seinem Blouson hoch und starrte sein Wasserglas an, das halb voll war. Durch die Glastür, die zur Nordseite des Bahnhofs führte, sah ich die Helligkeit des Tages und ich beschloss, diesen Mann zu vergessen.
    Seit zwölf Jahren arbeitete ich auf der Vermisstenstelle, vermutlich kannte ich Familiengeheimnisse, von denen nicht einmal ein Priester wusste, und jede Lüge, jeder Versuch, die Umstände in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, waren mir so vertraut wie die Motive, wegen denen jemand von einem Tag auf den anderen seine gewohnte Umgebung hinter sich ließ, um etwas zu riskieren, dem er dann doch nicht gewachsen war. In neun von zehn Fällen war es zumindest so. Ich hatte Menschen getroffen, die schworen, ihr Mann oder ihre Frau, ihr Freund oder ihre Schwester würden »so etwas« niemals tun. Es gebe überhaupt keinen Grund, ihnen »so etwas Schreckliches« zuzumuten. Und dann hatten diese Angehörigen ungeheure Mühe damit, eine exakte Beschreibung des Vermissten abzugeben – manchmal fanden sie nicht einmal ein brauchbares Foto –, seine speziellen Eigenschaften zu benennen, seine Ticks, seine Leidenschaften, seine heimlichen Vorlieben. Spätestens bei diesem Thema fingen die Lügen an. Und am Ende kehrten wir mit einem einzigen Lügenkonstrukt ins Dezernat zurück und konnten nichts tun als die puren Daten ins Netz zu stellen und zu hoffen, diese würden nicht mit den Angaben über bisher unidentifizierte Tote übereinstimmen. Abgesehen davon, dass ich für Vermisste zuständig war und nicht für Nichtvermisste, gehörten die Dinge, die ich in diesen beiden Tagen sowohl von der Studentin als auch von diesem Makler und Holzapfel erfahren hatte, zu meinem normalen Alltagsgeschäft. Eine Binnenwelt wie viele, es ging um etwas Geld

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